Der Report der Magd
werden. Ich werde Nick aufgeben, ich werde die anderen vergessen, ich werde aufhören, mich zu beklagen. Ich werde mein Los annehmen. Ich werde opfern. Ich werde bereuen. Ich werde verzichten. Ich werde entsagen.
Ich weiß, daß das nicht richtig sein kann, aber ich denke es trotzdem. Alles, was sie im Roten Zentrum gelehrt haben, alles, dem ich widerstanden habe, kommt herangeflutet. Ich will keinen Schmerz. Ich will keine Tänzerin sein, mit den Füßen in der Luft, der Kopf ein gesichtsloses Rechteck aus weißem Stoff. Ich will keine Puppe sein, an der Mauer aufgehängt, ich will kein flügelloser Engel sein. Ich will weiterleben, einerlei wie. Ich gebe meinen Körper frei, zum Nutzen der anderen. Sie mögen mit mir tun, was sie wollen. Ich bin tief gesunken. Ich spüre, zum erstenmal, ihre wahre Macht.
Ich gehe an den Blumenbeeten vorbei, an der Weide, auf die Hintertür zu. Ich werde hineingehen, ich werde in Sicherheit sein. Ich werde auf die Knie fallen, in meinem Zimmer, und dankbar in vollen Zügen die schale, nach Möbelpolitur riechende Luft einatmen.
Serena Joy ist aus der Haustür getreten; sie steht auf den Eingangsstufen. Sie ruft mich. Was will sie? Will sie, daß ich mit ins Wohnzimmer komme und ihr helfe, graue Wolle aufzuwickeln? Ich werde nicht imstande sein, meine Hände ruhig zu halten, sie wird etwas merken. Aber ich gehe trotzdem zu ihr hinüber, ich habe keine andere Wahl.
Auf der obersten Stufe ragt sie vor mir auf. Ihre Augen flackern, heißes Blau, umgeben von dem schrumpeligen Weiß ihrer Haut. Ich schaue weg von ihrem Gesicht, blicke zu Boden, auf ihre Füße, die Spitze ihres Stocks.
»Ich habe dir vertraut«, sagt sie. »Ich habe versucht, dir zu helfen.«
Noch immer schaue ich nicht zu ihr auf. Schuldgefühle beschleichen mich, ich bin entdeckt worden, aber wobei? Welcher meiner vielen Sünden werde ich angeklagt? Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, ist, stumm zu bleiben. Anzufangen, mich jetzt zu entschuldigen für dies oder das, wäre ein schwerer Fehler. Ich könnte etwas ausplaudern, was sie nicht einmal geahnt hat.
Es könnte eine Nichtigkeit sein. Es könnte das Streichholz sein, das ich in meinem Bett versteckt habe. Ich lasse den Kopf hängen.
»Nun?« fragt sie. »Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen?«
Ich schaue zu ihr auf. »Weswegen?« bringe ich stammelnd hervor. Sobald es heraus ist, klingt es frech.
»Schau her«, sagt sie. Sie nimmt die freie Hand hinter ihrem Rücken hervor. Sie hält ihren Umhang, den Winterumhang. »Es war Lippenstift daran« sagt sie. »Wie konntest du so ordinär sein? Ich habe ihm gesagt …« Sie läßt den Umhang fallen, sie hält noch etwas anderes in ihrer knöchernen Hand. Auch das wirft sie hin. Die purpurroten Pailletten fallen, rutschen über die Stufen nach unten wie Schlangenhaut, glitzernd im Sonnenlicht. »Hinter meinem Rücken«, sagt sie. »Du hättest mir etwas übriglassen können.« Liebt sie ihn also doch? Sie hebt den Stock. Ich denke, daß sie mich schlagen will, aber sie tut es nicht. »Heb das widerliche Ding auf und geh in dein Zimmer. Genau wie die andere. Eine Schlampe. Du wirst genauso enden.«
Ich bücke mich, hebe es auf. Hinter mir hat Nick aufgehört zu pfeifen.
Ich würde am liebsten kehrtmachen, zu ihm laufen, die Arme um ihn werfen. Aber das wäre unklug. Es gibt nichts, womit er mir helfen könnte. Auch er würde ertrinken.
Ich gehe zur Hintertür, in die Küche, setze meinen Korb ab, gehe die Treppe hinauf. Ich verhalte mich ruhig und gesittet.
XV
Nacht
Kapitel sechsundvierzig
Ich sitze in meinem Zimmer, am Fenster, und warte. Auf meinem Schoß liegt eine Handvoll zerdrückter Sterne.
Es könnte das letzte Mal sein, das ich zu warten habe. Aber ich weiß nicht, worauf ich warte. Worauf wartest du? fragten sie immer. Das bedeutete: Beeil dich. Es wurde keine Antwort erwartet. Auf was wartest du, ist eine andere Frage, und auch auf sie weiß ich keine Antwort.
Dabei ist es nicht unbedingt ein Warten. Es ist mehr wie ein Schwebezustand. Ohne Spannung. Endlich gibt es keine Zeit mehr.
Ich bin in Ungnade, was das Gegenteil von Gnade ist. Mir sollte eigentlich schlimmer zumute sein.
Aber ich fühle mich heiter und gelassen, friedlich, von Gleichgültigkeit durchdrungen. Die Schwalbe entflieht den Bösewichtern. Ich sage es mir immer wieder, aber es drückt nichts aus. Genausogut könnte man sagen: Entflieht den Bösewichtern. Oder: Flieht.
Ich nehme an, das könnte man
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