Der Report der Magd
wieder auf dem Bildschirm zu sehen ist. »Dreitausend Menschen sind diese Woche im Nationalen Heimatland Eins angekommen, zweitausend weitere sind noch im Transit.« Wie transportieren sie so viele Menschen auf einmal? In Zügen, Bussen? Davon bekommen wir keine Bilder zu sehen. Das Nationale Heimatland Eins ist in North Dakota. Der Himmel weiß, was sie dort eigentlich sollen, wenn sie ankommen. Landwirtschaft betreiben, lautet die offizielle Version.
Serena Joy hat genug von den Nachrichten. Ungeduldig drückt sie den Knopf für einen weiteren Kanalwechsel und wartet mit einem alternden Baß-Bariton auf, der Backen wie leere Euter hat. »Hoffnungsgeflüster« singt er. Serena schaltet ihn aus.
Wir warten, die Uhr im Flur tickt, Serena zündet sich noch eine Zigarette an, ich steige ins Auto. Es ist Samstagmorgen, es ist September, wir haben noch ein Auto. Andere Leute mußten ihres verkaufen. Mein Name ist nicht Desfred, ich habe einen anderen Namen, den jetzt keiner mehr gebraucht, weil es verboten ist. Ich sage mir, daß es nichts ausmacht, ein Name ist wie eine Telefonnummer, nur für andere von Nutzen. Aber was ich mir da sage, stimmt nicht, es macht etwas aus. Ich bewahre die Erinnerung an diesen Namen wie etwas Verborgenes, wie einen Schatz, den auszugraben ich eines Tages zurückkommen werde. Ich betrachte diesen Namen als begraben. Dieser Name hat eine Aura um sich, wie ein Amulett, einen Zauber, der aus einer unvorstellbar fernen Vergangenheit übriggeblieben ist. Ich liege nachts in meinem Einzelbett, mit geschlossenen Augen, und der Name schwimmt dort hinter meinen Augen, beinahe in Reichweite, und leuchtet in der Dunkelheit.
Es ist ein Samstagmorgen im September, ich trage meinen leuchtenden Namen. Das kleine Mädchen, das jetzt tot ist, sitzt auf dem Rücksitz, mit ihren beiden liebsten Puppen, ihrem ausgestopften Hasen, der vor Alter und Liebe räudig ist. Ich weiß alle Einzelheiten. Es sind sentimentale Einzelheiten, aber ich kann es nicht ändern. Ich darf nur nicht zu viel an den Hasen denken, ich darf nicht anfangen zu weinen, nicht hier auf dem chinesischen Teppich, während ich den Rauch einatme, der in Serenas Körper gewesen ist. Nicht hier, nicht jetzt, ich kann es später tun.
Sie dachte, wir seien unterwegs zu einem Picknick, und tatsächlich steht ein Picknick-Korb neben ihr auf dem Rücksitz, mit richtigem Essen darin, hartgekochten Eiern, Thermosflasche und allem, was dazugehört. Sie sollte nicht wissen, wohin wir wirklich fuhren, wir wollten nicht, daß sie sich aus Versehen verplapperte, etwas verriet, falls wir angehalten würden. Wir wollten ihr nicht die Bürde unserer Wahrheit aufladen.
Ich trug meine Wanderstiefel, sie hatte ihre Turnschuhe an. Die Schnürsenkel der Turnschuhe hatten ein Muster aus kleinen Herzen, rot, lila, rosa und gelb. Es war warm für die Jahreszeit, die Blätter färbten sich teilweise schon. Luke fuhr, ich saß neben ihm, die Sonne schien, der Himmel war blau, die Häuser sahen im Vorbeifahren tröstlich und ganz gewöhnlich aus, und jedes Haus versank, während wir es hinter uns ließen, in die Vergangenheit, zerfiel in einem Augenblick, als hätte es nie existiert, weil ich es niemals wiedersehen würde. So jedenfalls dachte ich damals.
Wir haben fast nichts mitgenommen, wir wollten nicht den Anschein erwecken, als führen wir weit oder für immer fort. Wir haben die gefälschten Pässe, garantiert, ihren Preis wert. Wir konnten sie natürlich nicht mit Geld bezahlen oder über das Compukonto: wir hatten mit anderen Dingen bezahlt, mit Schmuck von meiner Großmutter und einer Briefmarkensammlung, die Luke von seinem Onkel geerbt hatte. Solche Dinge kann man in anderen Ländern gegen Geld tauschen. Wenn wir bis zur Grenze kommen, werden wir behaupten, wir wollten nur auf einen Tagesausflug hinüberfahren; die gefälschten Visa sind für einen Tag. Vorher werde ich ihr eine Schlaftablette geben, damit sie schläft, wenn wir die Grenze überqueren. So wird sie uns nicht verraten. Man kann von einem Kind nicht erwarten, daß es überzeugend lügt.
Und ich will auch nicht, daß sie Angst hat, daß sie die Angst spürt, die jetzt meine Muskeln anspannt, meine Wirbelsäule anspannt, mich so straff zieht, daß ich sicherlich zerspringen würde, wenn jemand mich berührte. Jeder Halt ist eine Qual. Wir werden die Nacht in einem Motel verbringen oder, besser noch, in einer Seitenstraße im Auto übernachten, damit gar nicht erst mißtrauische Fragen kommen
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