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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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können. Wir werden am Morgen die Grenze überqueren, über die Brücke fahren, ganz harmlos, als führen wir zum Supermarkt.
    Wir fahren auf den Freeway, in Richtung Norden, fließen in nicht zu dichtem Verkehr. Seit der Krieg angefangen hat, ist das Benzin teuer und knapp. Außerhalb der Stadt kommen wir an den ersten Kontrollpunkt. Sie wollen nur den Führerschein sehen, Luke macht es gut. Der Führerschein stimmt mit dem Paß überein – daran haben wir gedacht.
    Wieder auf der Straße drückt er meine Hand und schaut zu mir herüber. Du bist weiß wie ein Leintuch, sagt er.
    So fühle ich mich auch: weiß, flach, dünn. Ich fühle mich durchsichtig. Sie werden bestimmt durch mich hindurchsehen können. Schlimmer noch, wie werde ich mich an Luke und an ihr festhalten können, wenn ich so flach, so weiß bin? Ich habe das Gefühl, als sei nicht viel von mir übriggeblieben; sie werden meinen Armen entschlüpfen, als wäre ich aus Rauch, als wäre ich eine Fata Morgana, die vor ihren Augen verblaßt. Du darfst so etwas nicht denken, würde Moira sagen. Wenn du so etwas denkst, dann passiert es auch.
    Kopf hoch, sagt Luke. Er fährt jetzt eine Spur zu schnell. Das Adrenalin ist ihm zu Kopfe gestiegen. Jetzt singt er. Oh, was für ein wunderschöner Morgen, singt er.
    Sogar wegen seines Singens mache ich mir Sorgen. Man hat uns geraten, nicht zu glücklich auszusehen.
     

Kapitel fünfzehn
    Der Kommandant klopft an die Tür. Das Klopfen ist Vorschrift: das Wohnzimmer gilt als Serena Joys Territorium, er muß um Erlaubnis bitten, ehe er es betritt. Sie läßt ihn gern warten – eine Kleinigkeit, aber in diesem Haushalt bedeuten Kleinigkeiten viel. Heute abend ist ihr jedoch nicht einmal dieses Vergnügen vergönnt, denn noch bevor sie sprechen kann, tritt er schon ins Zimmer. Vielleicht hat er nur das Protokoll vergessen, aber vielleicht ist es auch Absicht. Wer weiß, was sie über den mit Silber gedeckten Eßtisch hinüber zu ihm gesagt hat. Oder nicht gesagt hat.
    Der Kommandant trägt seine schwarze Uniform, in der er wie ein Museumswärter aussieht. Wie ein mehr oder weniger zurückgezogen lebender Mann, genial, aber vorsichtig, der sich die Zeit vertreibt. Allerdings nur auf den ersten Blick. Danach sieht er aus wie ein Bankdirektor aus dem mittleren Westen, mit seinem glatten, säuberlich gestriegelten silbernen Haar, seiner gesetzten Haltung, den leicht gebeugten Schultern. Und danach fällt einem sein ebenfalls silbriger Schnurrbart auf und danach sein Kinn, das man auf keinen Fall verfehlen kann. Wenn man bis zum Kinn hinuntergelangt, sieht er aus wie eine Wodka-Reklame in einer teuren Illustrierten vergangener Zeiten.
    Sein Betragen ist sanft, seine Hände sind groß, mit dicken Fingern und besitzgierigen Daumen, seine blauen Augen sind wenig mitteilsam und von vorgetäuschter Harmlosigkeit. Er sieht uns an, als nähme er das Inventar auf. Eine kniende Frau in Rot, eine sitzende Frau in Blau, zwei in Grün, stehend, ein einzelner Mann mit schmalem Gesicht im Hintergrund. Es gelingt ihm, ein wenig verwirrt auszusehen, so als könnte er sich nicht genau erinnern, wie wir alle hier hergeraten sind. Als wären wir etwas, was er geerbt hat, eine viktorianische Blasebalgorgel zum Beispiel, und als wäre er sich noch nicht im klaren darüber, was er mit uns anfangen soll. Was wir wert sind.
    Er nickt ungefähr in die Richtung von Serena Joy, die keinen Laut von sich gibt. Er geht hinüber zu dem großen Ledersessel, der für ihn reserviert ist, nimmt den Schlüssel aus seiner Tasche, macht sich an der messingverzierten, mit Leder bezogenen Schatulle zu schaffen, die auf dem Tisch neben dem Sessel steht. Er steckt den Schlüssel hinein, öffnet die Schatulle, nimmt die Bibel heraus, eine ganz normale Ausgabe mit schwarzem Einband und Goldschnitt. Die Bibel wird unter Verschluß gehalten, so wie die Herrschaft einst den Tee unter Verschluß hielt, damit die Bediensteten ihn nicht stahlen. Sie ist Zündstoff – wer weiß, was wir damit anstellen würden, wenn wir sie jemals in die Hände bekämen ? Uns darf vorgelesen werden, von ihm, aber wir dürfen nicht selbst lesen. Unsere Köpfe wenden sich ihm zu, wir sind voller Erwartung, jetzt kommt unsere Gutenachtgeschichte.
    Der Kommandant setzt sich und legt die Beine übereinander, von uns allen beobachtet. Die Buchzeichen sind an den richtigen Stellen. Er schlägt die Bibel auf. Er räuspert sich ein wenig, als sei er verlegen.
    »Könnte ich einen Schluck Wasser

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