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Der Report der Magd

Der Report der Magd

Titel: Der Report der Magd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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schweigen. Ich wußte, daß sie das erfunden hatten, ich wußte, daß es so nicht in der Bibel stand und daß sie auch Dinge ausließen, aber es gab keine Möglichkeit, es nachzuprüfen. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
    Keiner sagte wann.
    Beim Nachtisch, Dosenpfirsiche mit Zimt, der mittägliche Einheitsnachtisch, schaue ich zur Uhr und dann hinüber zu Moiras Platz, zwei Tische weiter. Sie ist schon gegangen. Ich hebe die Hand, ich werde entlassen. Wir tun das nicht oft, und immer zu verschiedenen Tageszeiten.
    In der Toilette gehe ich wie gewöhnlich zur zweitletzten Kabine.
    Bist du da? flüstere ich.
    In voller Lebensgröße und doppelt so häßlich, flüstert Moira zurück.
    Was hast du gehört? frage ich sie.
    Nicht viel. Ich muß hier raus, ich drehe durch.
    Panische Angst überkommt mich. Nein, nein, Moira, sage ich. Versuch es nicht. Nicht allein.
    Ich spiele einfach krank. Dann schicken sie einen Krankenwagen. Das habe ich schon gesehen.
    Du kommst nicht weiter als bis zum Krankenhaus.
    Das ist zumindest eine Abwechslung. Dann brauche ich mir wenigstens diese alte Schlampe nicht mehr anzuhören.
    Sie werden dir auf die Schliche kommen.
    Keine Sorge, ich kann das. Als ich noch zur Schule ging, habe ich mein Vitamin C nicht genommen und Skorbut bekommen. In den frühen Stadien kann man diese Krankheit nicht diagnostizieren. Dann nimmst du wieder Vitamin C, und es geht dir wieder gut. Ich werde meine Vitamintabletten verstecken.
    Moira, tu's nicht.
    Ich konnte den Gedanken, sie nicht mehr hier zu haben, bei mir, für mich, nicht ertragen.
    Die schicken zwei Typen mit im Krankenwagen. Überleg mal. Die müssen doch danach lechzen, Scheiße, die dürfen doch nicht einmal die Hände in die Tasche stecken, die Chance, daß …
    He, ihr da drinnen! Die Zeit ist um, sagte Tante Elizabeth draußen von der Tür her. Ich stand auf und zog die Spülung. Zwei von Moiras Fingern kamen durch das Loch in der Wand. Es war gerade groß genug für zwei Finger. Ich legte rasch meine Finger auf die ihren, hielt sie fest. Ließ sie los.
    »Und Leah sprach: Gott hat mir gelohnt, daß ich meine Magd meinem Manne gegeben habe«, sagt der Kommandant. Er läßt die Bibel zuklappen. Sie macht ein erschöpftes Geräusch, wie eine gepolsterte Tür, die sich in einiger Entfernung von selbst schließt – ein Lufthauch. Bei dem Geräusch ahne ich, wie weich die dünnen, zwiebelschalenfeinen Blätter sind, wie sie sich zwischen den Fingern anfühlen. Weich und trocken wie papier poudre, rosa und puderig, aus der Zeit davor, man bekam es in Abreißblöckchen, um den Glanz von der Nase zu entfernen, in den Geschäften, die Kerzen und Seife in der Form von Gegenständen anboten: Muscheln, Pilze. Wie Zigarettenpapier. Wie Blütenblätter.
    Der Kommandant sitzt einen Moment lang mit geschlossenen Augen da, als sei er müde. Er arbeitet lange. Er trägt viel Verantwortung.
    Serena hat angefangen zu weinen. Ich höre sie hinter mir. Es ist nicht das erste Mal. Sie tut es immer am Abend der Zeremonie. Sie versucht, keinen Laut von sich zu geben. Sie versucht, ihre Würde zu wahren, in unserer Gegenwart. Die Polster und Teppiche dämpfen ihre Stimme, aber wir können sie trotzdem deutlich hören. Die Spannung zwischen ihrem Mangel an Beherrschung und ihrem Versuch, es zu unterdrücken, ist schrecklich. Es ist wie ein Furz in der Kirche. Ich verspüre, wie immer, den Drang zu lachen, doch nicht, weil ich es komisch fände. Der Geruch ihres Weinens legt sich über uns, und wir versuchen ihn zu ignorieren.
    Der Kommandant öffnet die Augen, nimmt wahr, runzelt die Stirn, hört auf wahrzunehmen. »Wir haben jetzt einen Augenblick für ein stilles Gebet«, sagt der Kommandant. »Wir wollen um den Segen bitten und um Gelingen aller unserer Unternehmungen.«
    Ich neige den Kopf und schließe die Augen. Ich lausche auf den angehaltenen Atem, das fast unhörbare Ringen nach Luft, das Zittern hinter mir. Wie sie mich hassen muß, denke ich.
     
    Ich bete still: Hirundo maleficis evoltat. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es klingt richtig, und es wird ausreichen müssen, denn ich weiß nicht, was ich sonst zu Gott sagen könnte. Jedenfalls jetzt. Nicht, wie man zu sagen pflegte, an dieser Nahtstelle. Die in meine Schrankwand eingeritzte Schrift, von einer unbekannten Frau mit dem Gesicht von Moira hinterlassen, verschwimmt mir vor den Augen. Ich sah, wie sie fortgebracht wurde, zum Krankenwagen, auf einer Bahre, von

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