Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
immer noch, ich hätte den Schmied getötet?« fragte der andere.
»Ich habe keinen Augenblick daran geglaubt«, antwortete der Alte und fuhr dann fort, gleichgültig zusehend, wie der andere seine Pfeife in Brand steckte:
»Es ist mir nicht gelungen, dich der Verbrechen zu überführen, die du begangen hast, nun werde ich dich eben dessen überführen, das du nicht begangen hast.«
Gastmann schaute den Kommissär prüfend an.
»Auf diese Möglichkeit bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte er. »Ich werde mich vorsehen müssen.«
Der Kommissär schwieg.
»Vielleicht bist du ein gefährlicherer Bursche, als 122
ich dachte, alter Mann«, meinte Gastmann in seiner Ecke nachdenklich.
Der Wagen hielt. Sie waren am Bahnhof.
»Es ist das letzte Mal, daß ich mit dir rede, Bärlach«, sagte Gastmann. »Das nächste Mal werde ich dich töten, gesetzt, daß du deine Operation überstehst.«
»Du irrst dich«, sagte Bärlach, der auf dem mor-gendlichen Platz stand, alt und leicht frierend. »Du wirst mich nicht töten. Ich bin der einzige, der dich kennt, und so bin ich auch der einzige, der dich richten kann. Ich habe dich gerichtet, Gastmann, ich habe dich zum Tode verurteilt. Du wirst den heutigen Tag nicht mehr überleben. Der Henker, den ich ausersehen habe, wird heute zu dir kommen. Er wird dich töten, denn das muß nun eben einmal in Gottes Namen getan werden.«
Gastmann zuckte zusammen und starrte den
Alten verwundert an, doch dieser ging in den Bahnhof hinein, die Hände im Mantel vergraben, ohne sich umzukehren, hinein in das dunkle Ge -
bäude, das sich langsam mit Menschen füllte.
»Du Narr!« schrie Gastmann nun plötzlich dem Kommissär nach, so laut, daß sich einige Passanten umdrehten. »Du Narr!« Doch Bärlach war nicht mehr zu sehen.
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Der Tag, der nun immer mehr heraufzog, war klar und mächtig, die Sonne, ein makelloser Ball, warf harte und lange Schatten, sie, höher rollend, nur wenig verkürzend. Die Stadt lag da, eine weiße Muschel, das Licht aufsaugend, in ihren Gassen verschluckend, um es nachts mit tausend Lichtern wieder auszuspeien, ein Ungeheuer, das immer neue Menschen gebar, zersetzte, begrub. Immer strahlender wurde der Morgen, ein leuchtender Schild über dem Verhallen der Glocken. Tschanz wartete, bleich im Licht, das von den Mauern prallte, eine Stunde lang. Er ging unruhig in den Lauben vor der Kathedrale auf und ab, sah auch zu den Wasserspeiern hinauf, wilde Fratzen, die auf das Pflaster starrten, das im Sonnenlicht lag.
Endlich öffneten sich die Portale. Der Strom der Menschen war gewaltig, Lüthi hatte gepredigt, doch sah er sofort den weißen Regenmantel. Anna kam auf ihn zu. Sie sagte, daß sie sich freue, ihn zu sehen, und gab ihm die Hand. Sie gingen die Keßlergasse hinauf, mitten im Schwarm der Kirch-124
ganger, umgeben von alten und jungen Leuten; hier ein Professor, da eine sonntäglich heraus-geputzte Bäckersfrau, dort zwei Studenten mit einem Mädchen, einige Dutzend Beamte, Lehrer; alle sauber, alle gewaschen, alle hungrig, alle sich auf ein besseres Essen freuend. Sie erreichten den Kasinoplatz, überquerten ihn und gingen ins Mar-zili hinunter. Auf der Brücke blieben sie stehen.
»Fräulein Anna«, sagte Tschanz, »heute werde ich Ulrichs Mörder stellen.«
»Wissen Sie denn, wer es ist?« fragte sie überrascht.
Er schaute sie an. Sie stand vor ihm, bleich und schmal. »Ich glaube es zu wissen«, sagte er. »Werden Sie mir, wenn ich ihn gestellt habe«, er zögerte etwas in seiner Frage, »das gleiche wie Ihrem ver-storbenen Bräutigam sein?«
Anna antwortete nicht sofort. Sie zog ihren Mantel enger zusammen, als fröre sie. Ein leichter Wind stieg auf, brachte ihre blonden Haare durcheinander, aber dann sagte sie:
»So wollen wir es halten.«
Sie gaben sich die Hand, und Anna ging ans andere Ufer. Er sah ihr nach. Ihr weißer Mantel leuchtete zwischen den Birkenstämmen, tauchte zwischen Spaziergängern unter, kam wieder hervor, verschwand endlich. Dann ging er zum Bahnhof, wo er den Wagen gelassen hatte. Er fuhr nach Ligerz. Es war gegen Mittag, als er ankam; denn 125
er fuhr langsam, hielt manchmal auch an, ging rauchend in die Felder hinein, kehrte wieder zum Wagen zurück, fuhr weiter. Er hielt in Ligerz vor der Station, stieg dann die Treppe zur Kirche empor. Er war ruhig geworden. Der See war tief-blau, die Reben entlaubt, und die Erde zwischen ihnen braun und locker. Doch Tschanz sah nichts und kümmerte sich um nichts. Er
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