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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Wie hat sich Nehle denn das Leben genommen?«
    Der Alte sah nachdenklich, fast lauernd zum Arzt hinüber, der recht hilflos in seinem weißen Kittel an seinem Bette saß und alles vergessen hatte, Bärlachs Rausch und die wartenden Patienten. »Mit Blausäure«, antwortete der Kommissär endlich. »Wie die meisten Nazis.«
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    »In welcher Form?«
    »Er zerbiß eine Kapsel und verschluckte sie.«
    »Bei nüchternem Magen?«
    »Das hat man festgestellt.«
    Dies wirke auf der Stelle, sagte Hungertobel, und auf diesen Bildern scheine es, daß Nehle vor seinem Tode etwas Entsetzliches gesehen habe.
    Die beiden schwiegen.
    Endlich meinte der Kommissär: »Gehen wir
    weiter, wenn auch Nehles Tod seine Rätsel haben wird; wir haben noch die ändern verdächtigen Punkte zu untersuchen.«
    »Ich verstehe nicht, wie du von weiteren verdächtigen Punkten sprechen kannst«, sagte Hungertobel verwundert und bedrückt zugleich. »Das ist doch übertrieben.«
    »O nein«, sagte Bärlach. »Da ist einmal dein Studienerlebnis. Ich will es nur kurz berühren. Es hilft mir in der Weise, als es mir einen psycholo-gischen Anhaltspunkt dafür gibt, warum Emmenberger unter Umständen zu den Taten fähig wäre, die wir bei ihm annehmen müssen, wenn er in Stutthof war. Doch ich komme zu einer anderen, wichtigeren Tatsache: ich bin hier im Besitz des Lebenslaufs dessen, den wir unter dem Namen Nehle kennen. Seine Herkunft ist düster. Er wurde 1890 geboren, ist also drei Jahre jünger als Emmenberger. Er ist Berliner. Sein Vater ist unbekannt, seine Mutter ein Dienstmädchen, das 215
    den unehelichen Knaben bei den Großeltern ließ, ein unstetes Leben führte, später ins
    Korrektionshaus kam und dann verschwand. Der Großvater arbeitete bei den Borsigwerken; ebenfalls unehelich, ist er in seiner Jugend aus Bayern nach Berlin gekommen. Die Großmutter ist eine Polin. Nehle besuchte die Volksschule und rückte dann vierzehn ein, war bis fünfzehn Infanterist, wurde dann in die Sanität versetzt, dies auf Antrag eines Sanitätsoffiziers. Hier schien auch ein unwiderstehlicher Trieb zur Medizin erwacht zu sein; er wurde mit dem Eisernen Kreuz
    ausgezeichnet, weil er mit Erfolg Notoperationen durchführte. Nach dem Krieg arbeitete er als Medizingehilfe in verschiedenen Irrenhäusern und Spitälern, bereitete sich in der Freizeit auf die Maturität vor, um Arzt studieren zu können, fiel jedoch zweimal in der Prüfung durch: er versagte in den alten Sprachen und in der Mathematik. Der Mann scheint nur für die Medizin begabt gewesen zu sein. Dann wurde er Naturarzt und
    Wunderdoktor, zu dem alle Schichten der Be-völkerung liefen, kam mit dem Gesetz in Konflikt, wurde mit einer nicht allzu großen Buße bestraft, weil, wie das Gericht feststellte, »seine medizinischen Kenntnisse erstaunlich seien«. Eingaben wurden gemacht, die Zeitungen schrieben für ihn.
    Vergeblich. Dann ward es still um den Fall. Da er immer wieder rückfällig wurde, drückte man schließlich ein Auge zu. Nehle dokterte in den 216
    dreißiger Jahren in Schlesien, Westfalen, im Bayerischen und im Hessischen herum. Dann nach zwanzig Jahren die große Wendung:
    achtunddreißig besteht er die Maturität.
    (Siebenunddreißig wanderte Emmenberger von Deutschland nach Chile aus!) Die Leistungen Nehles in den alten Sprachen und in der
    Mathematik waren glänzend. Auf der Universität wird ihm durch Dekret das Studium erlassen, er bekommt das Staatsdiplom nach glänzendem
    Staatsexamen, verschwindet jedoch zum Erstaunen aller als Arzt in den Konzentrationslagern.«
    »Mein Gott«, sagte Hungertobel, »was willst du daraus wieder schließen?«
    »Das ist einfach«, antwortete Bärlach nicht ohne Spott. »Nehmen wir jetzt die Artikel zur Hand, die wir in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift von Emmenberger zur Verfügung haben, und die aus Chile stammen. Auch sie sind eine Tatsache, die wir nicht leugnen können und die wir zu untersuchen haben. Diese Artikel seien wissenschaftlich bemerkenswert. Ich will das glauben. Aber was ich nicht glauben kann, ist, daß sie von einem Menschen stammen, der sich durch einen literarischen Stil auszeichnen soll, wie du das von Emmenberger behauptest. Schwerfälliger kann man sich wohl kaum mehr ausdrücken.«
    »Eine wissenschaftliche Abhandlung ist noch lange kein Gedicht«, protestierte der Arzt. »Auch Kant hat schließlich kompliziert geschrieben.«
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    »Laß mir den Kant in Ruh«, brummte der Alte.
    »Der hat schwierig, aber

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