Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
stehen; endlich führte man ihn in den Neubau (man hatte ihn wie ein ver-
ängstigtes Tier eingefangen), doch geriet ihm, noch bevor er in des Alten Zimmer trat, der Stock zwischen die Beine und schlitterte durch den halben Korridor, um hart gegen eine Türe zu prallen, hinter der ein Schwerkranker lag.
»Diese Verkehrspolizei!« rief der Besucher aus, 221
als er endlich vor Bärlachs Bett stand. (Gott sei Lob und Dank, dachte die Lehr seh wester, die ihn begleitet hatte.) »Überall stehen sie herum. Eine ganze Stadt voll Verkehrspolizisten!«
»He«, antwortete der Kommissär, der vorsichti-gerweise auf den aufgeregten Besucher einging,
»so eine Verkehrspolizei ist eben nun einmal nötig, Fortschig. In den Verkehr muß Ordnung kommen, sonst gibt es noch mehr Tote, als wir schon haben.«
»Ordnung in den Verkehr!« rief Fortschig mit seiner quietschenden Stimme. »Schön. Das ließe sich hören. Aber dazu braucht man keine besondere Verkehrspolizei, dazu braucht man vor allem mehr Vertrauen in die Anständigkeit des Menschen. Das ganze Bernist ein einziges Verkehrs-polizistenlager geworden, kein Wunder, daß da jeder Straßenbenützer wild wird. Aber das ist Bern immer gewesen, ein trostloses Polizistennest, eine heillose Diktatur hat in dieser Stadt seit jeher genistet. Schon Lessing wollte eine Tragödie über Bern schreiben, als ihm der jämmerliche Tod des armen Henzi gemeldet wurde. Jammerschade, daß er sie nicht schrieb! Fünfzig Jahre lebe ich jetzt in diesem Nest von einer Hauptstadt, und was es für einen Wortsteller heißt (ich stelle Worte auf, nicht Schriften!), in dieser ein-geschlafenen, dicken Stadt zu vegetieren und zu hungern (man kriegt nichts als das wöchentliche
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Literaturblatt des >Bund< vorgesetzt), will ich nicht beschreiben. Schaudervoll, höchst
schaudervoll! Fünfzig Jahre schloß ich die Augen, wenn ich durch Bern ging, schon im Kinderwagen habe ich das getan; denn ich wollte diese Unglücksstadt nicht sehen, in der mein Vater als irgendein Adjunkt zugrunde ging, und jetzt, da ich die Augen öffne, was sehe ich? Verkehrspolizisten, überall Verkehrspolizisten.«
»Fortschig«, sagte der Alte energisch, »wir haben jetzt nicht von der Verkehrspolizei zu reden«, und er sah streng nach der verko mmenen und verschimmelten Gestalt hinüber, die sich auf den Stuhl gesetzt hatte und jämmerlich hin und her schwankte, vom Elend geschüttelt.
»Ich weiß gar nicht, was mit Ihnen los ist«, fuhr der Alte fort. »Zum Teufel, Fortschig, Sie haben doch was auf der Palette, Sie waren doch ein ganzer Kerl, und der >Apfelschuß<, den Sie herausgeben, war eine gute Zeitung, wenn auch eine kleine; aber jetzt füllen Sie sie mit lauter so gleichgültigem Zeug wie Verkehrspolizei, Trolleybus, Hunden, Briefmarkensammlern, Kugelschreibern, Ra-dioprogrammen, Theaterklatsch, Trambilletten, Kinoreklame, Bundesräten und Jassen. Die Energie und das Pathos, mit dem Sie gegen solche Dinge anrennen — es geht bei Ihnen immer gleich zu wie in Schillers Wilhelm Teil —, ist, weiß Gott, einer ändern Sache würdig.«
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»Kommissär«, krächzte der Besuch,
»Kommissär! Versündigen Sie sich nicht an einem Dichter, an einem schreibenden Menschen, der das unendliche Pech hat, in der Schweiz leben zu müssen und, was noch zehnmal schlimmer ist, von der Schweiz leben zu müssen.«
»Nun, nun«, versuchte Bärlach zu begütigen; aber Fortschig wurde immer wilder.
»Nun, nun«, schrie er und sprang vom Stuhl auf, lief zum Fenster und dann wieder zur Türe, und so immer fort wie ein Pendel. »Nun, nun, das ist leicht gesagt. Was ist mit dem >Nun, nun< entschuldigt?
Nichts! Bei Gott, nichts! Zugegeben, ich bin eine lächerliche Figur geworden, beinahe eine solche wie unsere Habakuke, Theobalde, Eustache und Mustache, oder wie sie alle zu heißen vorgeben, die unsere Spalten in den lieben, langweiligen Tages zeitungen mit ihren Abenteuern füllen, die sie mit Kragenknöpfen, Ehefrauen und
Rasierklingen zu bestehen haben — unter dem Strich, versteht sich; aber wer ist nicht alles unter den Strich gesunken in diesem Lande, wo man immer noch vom Raunen der Seele dichtet, wenn ringsum die ganze Welt zusammenkracht!
Kommissär, Kommissär, was habe ich nicht
versucht, um mir ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen mit meiner Schreibmaschine; aber nicht einmal zum Einkommen eines mittleren Dorfarmen brachte ich es, ein Unternehmen nach dem ändern mußte aufgegeben werden,
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eine Hoffnung nach
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