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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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nicht schlecht
    geschrieben. Der Verfasser dieser Beiträge aus Chile aber schreibt nicht nur schwerfällig, sondern auch grammatikalisch falsch. Der Mann scheint sich über den Dativ und den Akkusativ nicht im klaren gewesen zu sein, wie man das von den Berlinern behauptet, die auch nie wissen, ob man jetzt dir oder dich sagt. Merkwürdig ist auch, daß er Griechisch oft als Lateinisch bezeichnet, als hätte er von diesen Sprachen keine Ahnung, so zum Beispiel in der Nummer fünfzehn vom Jahre zweiundvierzig das Wort Gastrolyse.«
    Im Zimmer herrschte eine tödliche Stille.
    Minutenlang.
    Dann zündete sich Hungertobel eine »Little-Rose of Sumatra« an.
    Bärlach glaube also, daß Nehle diese Abhandlung geschrieben habe, fragte er endlich.
    Er halte es für wahrscheinlich, antwortete der Kommissär gelassen.
    »Ich kann dir nichts mehr entgegnen«, sagte der Arzt düster. »Du hast mir die Wahrheit bewiesen.«
    »Wir dürfen jetzt nicht übertreiben«, meinte der Alte und schloß die Mappe auf seiner Bettdecke.
    »Ich habe dir nur die Wahrscheinlichkeit meiner Thesen bewiesen. Aber das Wahrscheinliche ist noch nicht das Wirkliche. Wenn ich sage, daß es morgen wahrscheinlich regnet, braucht es morgen 218
    doch nicht zu regnen. In dieser Welt ist der Ge -
    danke mit der Wahrheit nicht identisch. Wir hätten es sonst in vielem leichter, Samuel. Zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit steht immer noch das Abenteuer dieses Daseins, und das wollen wir nun denn in Gottes Namen bestehen.«
    »Das hat doch keinen Sinn«, stöhnte Hungertob el und sah hilflos nach seinem Freund, der, wie immer unbeweglich, die Hände hinter dem Kopf, in seinem Bette lag.
    »Du begibst dich in eine fürchterliche Gefahr, wenn deine Spekulation stimmt, denn Emmenberger ist dann ein Teufel!« meinte er.
    »Ich weiß«, nickte der Kommissär.
    »Es hat keinen Sinn«, sagte der Arzt noch einmal, leise, fast flüsternd.
    »Die Gerechtigkeit hat immer Sinn«, beharrte Bärlach auf seinem Unternehmen. »Melde mich bei Emmenberger. Morgen will ich fahren.«
    »Am Silvester?« Hungertobel sprang auf.
    »Ja«, antwortete der Alte, »am Silvester.« Und dann funkelten seine Augen spöttisch: »Hast du mir Emmenbergers Traktat über Astrologie mitgebracht?«
    »Gewiß«, stotterte der Arzt.
    Bärlach lachte: »Dann gib es her, ich bin doch neugierig, ob nicht etwas über meinen Stern darin steht. Vielleicht habe ich eben doch eine Chance.«

    219
    Noch ein Besuch
    Der fürchterliche Alte, der nun den Nachmittag damit verbrachte, einen ganzen Bogen mühsam vollzuschreiben, des weiteren mit der Kantonal-bank und einem Notar telefonierte, dieser götzenhaft undurchsichtige Kranke, zu dem die Schwestern immer zögernder gingen und der mit unerschütterlicher Ruhe seine Fäden spann, einer Riesenspinne vergleichbar, unbeirrbar einen Schluß an den ändern fügend, erhielt gegen Abend, kurz nachdem ihm Hungertobel mitgeteilt hatte, er könne am Silvester im Sonnenstein eintreten, noch einen Besuch, von dem man nicht wußte, kam er freiwillig oder war er vom Kommissär gerufen.
    Der Besucher war ein kleiner, dürrer Kerl mit einem langen Hals. Sein Leib steckte in einem offenen Regenmantel, dessen Taschen mit Zeitungen vollgestopft waren. Unter dem Mantel trug er eine zerrissene graue Kleidung mit braunen Streifen und ebenfalls überall Zeitungen; um den schmutzigen Hals wand sich ein zitronengelbes, fleckiges Seidentuch, auf dem Kopf klebte an der 220
    Glatze eine Baskenmütze. Die Augen funkelten unter buschigen Brauen, die starke Hakennase schien zu groß für das Männchen, und der Mund darunter war erbärmlich eingefallen, denn die Zähne fehlten. Er sprach laut vor sich hin, Verse, wie es schien, dazwischen tauchten wie Inseln einzelne Worte auf, so etwa: Trolleybus, Verkehrspolizei; Dinge, über die er sich aus irgendeinem Grund maßlos zu ärgern schien. Zu der armseligen Kleidung wollte der zwar elegante, aber ganz aus der Mode gekommene schwarze
    Spazierstock mit einem silbernen Griff nicht passen, der aus einem ändern Jahrhundert stammen mußte und mit dem er unmotiviert herumfuchtelte.
    Schon beim Haupteingang rannte er gegen eine Krankenschwester, verbeugte sich, stammelte eine überschwengliche Entschuldigung, verirrte sich darauf hoffnungslos in die Geburtenabteilung, platzte fast in den Gebärsaal, wo alles in voller Tätigkeit war, wurde von einem Arzt verscheucht, stolperte über eine Vase mit Nelken, wie sie dort in Massen vor den Türen

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