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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Bericht über Nehle schicken lassen. Über die Organisation bei der Polizei ließ sich heute wirklich nichts mehr sagen, vor allem nicht, wenn man nun pensioniert wurde, was übermorgen Gott sei Dank der Fall war; in Konstantinopel mußte man Anno dazumal
    monatelang auf eine Auskunft warten. Doch bevor sich der Alte hinters Lesen machen konnte, brachte die Krankenschwester das Essen. Es war die Schwester Lina, die er besonders mochte, doch schien sie ihm heute reserviert, gar nicht mehr ganz so wie früher. Es wurde dem Kommis sär
    unheimlich. Man mußte doch irgendwie hin-
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    ter die gestrige Nacht gekommen sein, vermutete er. Unbegreiflich. Es war ihm zwar, als ob er am Schluß den Berner Marsch gesungen hätte, als Gulliver gegangen war, aber dies mußte eine Täuschung sein, er war ja überhaupt nicht patrio -
    tisch. Verflixt, dachte er, wenn man sich nur erinnern könnte! Der Alte sah sich mißtrauisch im Zimmer um, während er die Haferschleimsuppe löffelte. (Immer Haferschleimsuppe!) Auf dem Waschtisch standen einige Flaschen und Medika -
    mente, die vorher nicht dagewesen waren. Was sollte denn dies wieder bedeuten? Dem Ganzen war nicht zu trauen. Überdies erschienen alle zehn Minuten immer andere Schwestern, um irgend etwas zu holen, zu suchen oder zu bringen; eine kicherte draußen im Korridor, er hörte es deutlich.
    Nach Hungertobel wagte er nicht zu fragen, es war ihm auch ganz recht, daß dieser erst gegen Abend kam, weil er doch über Mittag seine Praxis in der Stadt hatte. Bärlach schluckte trübsinnig den Grießbrei mit Apfelmus hinunter (auch dies war keine Abwechslung), war dann aber überrascht, als es darauf zum Dessert einen starken Kaffee mit Zucker gab - auf besondere Anweisung Doktor Hungertobels, wie sich die Schwester vorwurfsvoll ausdrückte. Sonst war dies nie der Fall gewesen.
    Der Kaffee schmeckte ihm und heiterte ihn auf.
    Dann vertiefte er sich in die Akten, das war das Gescheiteste, was zu tun war, doch schon nach 205
    eins kam zu seiner Überraschung Hungertobel herein, mit einem bedenklichen Gesicht, wie der Alte, scheinbar immer noch in seine Papiere vertieft, mit einer unmerklichen Bewegung seiner Augen wahrnahm.
    »Hans«, sagte Hungertobel und trat entschlossen ans Bett, »was ist denn um Himmels willen geschehen? Ich würde schwören, und mit mir alle Schwestern, daß du einen Bombenrausch gehabt hast!«
    »So«, sagte der Alte und sah von' seinen Akten auf. Und dann sagte er: »Ei!«
    Jawohl, antwortete Hungertobel, es mache alles diesen Eindruck. Er habe den ganzen Morgen umsonst versucht, ihn wach zu bekommen.
    Das tue ihm aber leid, bedauerte der Kommissär.
    »Es ist praktisch einfach unmöglich, daß du Al-kohol getrunken hast, du müßtest denn auch die Flasche verschluckt haben!« rief der Arzt.
    Das glaube er auch, schmunzelte der Alte.
    Er stehe vor einem Rätsel, sagte Hungertobel und putzte sich die Brille. Das tat er, wenn er aufgeregt war.
    Lieber Samuel, sagte der Kommissär, es sei wohl nicht immer leicht, einen Kriminalisten zu beherbergen, das gebe er zu, den Verdacht, ein heimlicher Süffel zu sein, müsse er durchaus auf sich nehmen, und er bitte ihn nur, die Klinik Sonnenstein in Zürich anzurufen und Bärlach 206
    unter dem Namen Blaise Kramer als frisch operier-ten, bettlägerigen, aber reichen Patienten anzu-melden.
    »Du willst zu Emmenberger?« fragte Hungertobel bestürzt und setzte sich.
    »Natürlich«, antwortete Bärlach.
    »Hans«, sagte Hungertobel, »ich verstehe dich nicht. Nehle ist tot.«
    »Ein Nehle ist tot«, verbesserte der Alte. »Wir müssen jetzt feststellen, welcher.«
    »Um Gottes willen«, fragte der Arzt atemlos:
    »Gibt es denn zwei Nehles?«
    Bärlach nahm die Akten zur Hand. »Betrachten wir zusammen den Fall«, fuhr er ruhig fort, »und untersuchen wir, was uns dabei auffällt. Du wirst sehen, unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathema -
    tik zusammen und aus sehr viel Phantasie.«
    Er verstehe nichts, stöhnte Hungertobel, den ganzen Morgen verstehe er nichts mehr.
    Er lese die Angaben, fuhr der Kommissär fort:
    »Große, hagere Gestalt, die Haare grau, früher braunrot, die Augen grünlichgrau, Ohren ab-stehend, das Gesicht schmal und bleich, mit Säcken unter den Augen, die Zähne gesund.
    Besonderes Kennzeichen: Narbe an der rechten Augenbraue.«
    Das sei er genau, sagte Hungertobel.
    »Wer?« fragte Bärlach.
    »Emmenberger«, antwortete der Arzt. Er habe ihn aus der Beschreibung erkannt.
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    Es sei aber die

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