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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Beschreibung des in Hamburg tot aufgefundenen Nehle, entgegnete Bärlach, wie sie in den Akten der Kriminalpolizei stehe.
    Um so natürlicher, daß er die beiden verwechselt habe, stellte Hungertobel befriedigt fest. »Jeder von uns kann einem Mörder gleichen. Meine Verwechslung hat die einfachste Erklärung der Welt gefunden. Das mußt du doch einsehen.«
    »Das ist ein Schluß«, sagte der Kommissär. »Es sind jedoch noch andere Schlüsse möglich, die auf den ersten Blick nicht so zwingend erscheinen, aber doch als >auch moglich< näher untersucht werden müssen. Ein anderer Schluß wäre: nicht Emmenberger war in Chile, sondern Nehle unter dessen Namen, während Emmenberger unter des ändern Namen in Stutthof war.«
    Das sei ein unwahrscheinlicher Schluß,
    wunderte sich Hungertobel. Gewiß, antwortete Bärlach, aber ein zulässiger. Sie müßten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
    »Wo kämen wir denn da um Gottes willen hin!«
    protestierte der Arzt. »Da hätte Emmenberger sich in Hamburg getötet und der Arzt, der jetzt die Klinik Sonnenstein leitet, wäre Nehle.«
    »Hast du Emmenberger seit seiner Rückkehr aus Chile gesehen?« warf der Alte ein.
    »Nur flüchtig«, antwortete Hungertobel stutzend und griff sich verwirrt an den Kopf. Die Brille hatte er endlich wieder aufgesetzt.

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    »Siehst du, diese Möglichkeit ist vorhanden!«
    fuhr der Kommissär fort. »Möglich wäre auch folgende Lösung: der Tote in Hamburg ist der aus Chile zurückgekehrte Nehle, und Emmenberger kehrte aus Stutthof, wo er den Namen Nehle führte, in die Schweiz zurück.«
    Da müßten sie schon ein Verbrechen annehmen, sagte Hungertobel kopfschüttelnd, um diese sonderbare These verfechten zu können.
    »Richtig, Samuel!« nickte der Kommissär. »Wir müßten annehmen, daß Nehle von Emmenberger getötet worden sei.«
    »Wir können mit dem gleichen Recht auch das Umgekehrte annehmen: Nehle tötete Emmenberger. Deiner Phantasie sind offenbar nicht die geringsten Grenzen gesetzt.«
    »Auch diese These ist richtig«, sagte Bärlach.
    »Auch sie können wir annehmen, wenigstens im jetzigen Grad der Spekulation.«
    Das sei alles Unsinn, sagte der alte Arzt ver-
    ärgert.
    »Möglich«, antwortete Bärlach
    undurchdringlich.
    Hungertobel wehrte sich energisch. Mit der primitiven Art und Weise, wie der Kommissär mit der Wirklichkeit umgehe, könne kinderleicht bewiesen werden, was man nur wolle. Mit dieser Methode würde überhaupt alles in Frage gestellt, sagte er.
    »Ein Kriminalist hat die Pflicht, die
    Wirklichkeit in Frage zu stellen«, antwortete der Alte. »Das ist
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    nun einmal so. Wir müssen in diesem Punkt durchaus wie die Philosophen vorgehen, von denen es heißt, daß sie erst einmal alles bezweifeln, bevor sie sich hinter ihr Metier machen und die schönsten Spekulationen über die Kunst zu sterben und vom Leben nach dem Tode ausdenken, nur daß wir vielleicht noch weniger taugen als sie. Wir haben zusammen verschiedene Thesen aufgestellt. Alle sind möglich. Dies ist der erste Schritt. Der nächste wird sein, daß wir von den möglichen Thesen die wahrscheinlichen unterscheiden. Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe; das Mögliche braucht noch lange nicht das
    Wahrscheinliche zu sein. Wir müssen deshalb den Wahrscheinlichkeitsgrad unserer Thesen
    untersuchen. Wir haben zwei Personen, zwei Ärzte: auf der einen Seite Nehle, einen Verbrecher, und auf der ändern deinen Jugendbekannten Emmenberger, den Leiter der Klinik Sonnenstein in Zürich. Wir haben im wesentlichen zwei Thesen aufgestellt, beide sind möglich. Ihr
    Wahrscheinlichkeitsgrad ist auf den ersten Blick verschieden. Die eine These behauptet, daß zwischen Emmenberger und Nehle keine
    Beziehung bestehe, und ist wahrscheinlich, die zweite setzt eine Beziehung und ist
    unwahrscheinlicher.«
    Eben, unterbrach Hungertobel den Alten, das habe er immer gesagt.
    »Lieber Samuel«, antwortete Bärlach, »ich bin 210
    leider nun einmal ein Kriminalist und verpflichtet, in den menschlichen Beziehungen die Verbrechen herauszufinden. Die erste These, die zwischen Nehle und Emmenberger keine Beziehung setzt, interessiert mich nicht. Nehle ist tot, und gegen Emmenberger liegt nichts vor. Dagegen zwingt mich mein Beruf, die zweite, unwahrscheinlichere These näher zu untersuchen. Was ist an dieser These wahrscheinlich? Sie besagt, daß Nehle und Emmenberger ihre Rollen vertauscht haben, daß Emmenberger als Nehle in Stutthof war und ohne

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