Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Narkose an Häftlingen Operationen vornahm; ferner, daß Nehle in der Rolle des Emmenberger in Chile weilte und von dort Berichte und Abhand-lungen an ärztliche Zeitschriften schickte; über das Weitere, den Tod Nehles in Hamburg und den jetzigen Aufenthalt Emmenbergers in Zürich ganz zu schweigen. Diese These is t phantastisch, das wollen wir erst einmal ruhig zugeben. Möglich ist sie insofern, als beide, Emmenberger und Nehle, nicht nur Ärzte sind, sondern sich zudem gleichen.
Hier ist der erste Punkt erreicht, bei dem wir zu verweilen haben. Es ist die erste Tatsache, die in unserer Spekulation, in diesem Gewirr von Möglichem und Wahrscheinlichem, auftaucht. Untersuchen wir diese Tatsache. Wie gleichen sich die beiden? Ähnlichkeiten treffen wir oft an, große Ähnlichkeiten seltener, am seltensten sind wohl Ähnlichkeiten, die auch in den zufälligen Dingen 211
übereinstimmen, in Merkmalen, die nicht von der Natur, sondern von einem bestimmten Vorfall herrühren. Das ist hier so. Beide haben nicht nur die gleichen Haar- und Augenfarben, ähnliche Ge -
sichtszüge, gleichen Körperbau und so weiter, sondern auch an der rechten Augenbraue die gleiche eigentümliche Narbe.«
Nun, das sei Zufall, sagte der Arzt.
»Oder auch Kunst«, ergänzte der Alte. Hungertobel habe einst Emmenberger an der Augenbraue operiert. Was er denn gehabt habe?
Die Narbe stamme von einer Operation her, die man bei einer weit fortgeschrittenen Stirnhöhlen-eiterung anwenden müsse, antwortete Hungertobel.
»Den Schnitt führt man in der Augenbraue
durch, damit die Narbe weniger sichtbar wird. Das ist mir damals bei Emmenberger wohl nicht recht gelungen. Ein gewisses Künstlerpech muß da durchaus eine Rolle gespielt haben, ich operiere doch sonst geschickt. Die Narbe wurde deutlicher, als es für einen Chirurgen schicklich war, und außerdem fehlte nachher ein Teil der Braue.«
Ob diese Operation häufig vorkomme, wollte der Kommissär wissen.
Nun, antwortete Hungertobel, häufig nicht gerade. Man lasse eine Sache in der Stirnhöhle gar nicht so weit kommen, daß man gleich operieren müsse.
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»Siehst du«, sagte Bä rlach, »das ist nun das merkwürdige: diese nicht allzuhäufige Operation wurde auch bei Nehle durchgeführt, und auch bei ihm weist die Braue eine Lücke auf, an der gleichen Stelle, wie es hier in den Akten steht: die Leiche in Hamburg wurde genau untersucht. Hatte Emmenberger am linken Unterarm eine handbreite Brandnarbe?«
Warum er darauf komme, fragte Hungertobel verwundert. Emmenberger habe einmal bei einem chemischen Versuch einen Unfall gehabt.
Auch an der Leiche in Hamburg habe man diese Narbe gefunden, sagte Bärlach befriedigt. Ob Emmenberger diese Merkmale noch heute besitze? Es wäre wichtig, das zu wissen.
Letzten Sommer in Ascona, antwortete der Ar?t.
Da habe er noch beide Narben gehabt, das sei ihm gleich aufgefallen. Emmenberger sei noch ganz der alte gewesen, habe einige boshafte Bemerkungen gemacht und ihn im übrigen kaum mehr erkannt.
»So«, sagte der Kommissär, »er schien dich kaum mehr zu kennen. Du siehst, die Ähnlichkeit geht so weit, daß man nicht mehr recht weiß, wer wer ist. Wir müssen entweder an einen seltenen und sonderbaren Zufall glauben oder an einen Kunstgriff. Wahrscheinlich ist die Ähnlichkeit zwischen beiden im Grunde nicht so groß, wie wir jetzt glauben. Was in den amtlichen Papieren und in einem Paß ähnlich scheint, genügt nicht, um die 213
beiden ohne weiteres zu verwechseln; wenn sich die Ähnlichkeit jedoch auch auf so zufällige Dinge erstreckt, ist die Chance größer, daß einer den ändern vertreten kann. Der Kunstgriff einer Schem-operation und eines künstlich herbeigeführten Unfalls hätte dann den Sinn gehabt, die Ähnlichkeit in eine Identität zu verwandeln. Doch können wir in diesem Stand der Untersuchung nur Vermu tungen aussprechen; aber du mußt zugeben, daß diese Art von Ähnlichkeit unsere zweite These
wahrscheinlicher macht.«
Ob es denn kein Bild Nehles außer der Fotografie in dem »Life« gebe, fragte Hungertobel.
»Drei Aufnahmen der hamburgischen Kriminalpolizei«, antwortete der Kommissär, entnahm die Bilder den Akten und gab sie seinem Freund hin-
über. »Sie zeigen einen Toten.«
»Da ist nicht mehr viel zu erkennen«, meinte Hungertobel nach einiger Zeit enttäuscht. Seine Stimme zitterte. »Eine starke Ähnlichkeit mag vorhanden sein, ja, ich kann mir denken, daß auch Emmenberger im Tode so aussehen müßte.
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