Der Richter und sein Henker (German Edition)
Schwiegermutter, bei der wir wohnten, meine Frau, das erste Kind, ich und ein kleiner Hund, halb Spitz, halb Papillon. Ich lief in einem Overall herum, dick, unförmig, bald würde mein Diabetes entdeckt werden.«
Kommissär Bärlach – ein bernischer Dämon
Zweitens die finanzielle Lage: Es gab damals, erinnert er sich später, keinen Verleger, den er nicht angerufen und dem er nicht ein (nicht existierendes) Manuskript angeboten hätte.
Drittens, wie das Zitat nahelegt, seine Krankheit. Zur »Zeit der Kriminalromane«, erinnert sich Dürrenmatts Schwester, sei er ins Spital eingeliefert worden, »sozusagen im Koma«, da erst hätten die Ärzte seine Zuckerkrankheit entdeckt. Dazu kamen noch die Krankheiten seiner Frau, die sich neben den Geburten der Töchter Barbara und Ruth mehreren Operationen zu unterziehen hatte. Dafür war Geld herbeizuschreiben.
Endlich aber bedeutete ihm zeitlebens jedes Idyll eine Herausforderung, als Gegenteil dessen, was er wenig später (in 21 Punkte zu den Physikern ) »die schlimmstmögliche Wendung« nennen sollte. Ihn interessierte die Fallhöhe zwischen der Ordnung und dem hinter/unter ihr brodelnden Untergrund, dem Grotesken, dem Chaotischen. Dürrenmatt kannte die angestrengten Hilfskonstruktionen zu genau, mit denen er sein eigenes Chaos gerade noch hatte eindämmen können, um nicht jeder Ordnung zu mißtrauen. Das Idyll aber ist (im Bildchen) die Feier der Ordnung im Kleinen und Einfachen. Klein und einfach war er selbst nicht, seine Kriminalromane nicht, schon gar nicht die darin mit den Untersuchungen beauftragten Kommissäre (er besteht auf dem bernischen Umlaut), Richter und Anwälte. Bärlach, der erste von ihnen, ist nicht weniger als ein bernischer Dämon. Nur das Fortwirken der Kriminalroman-Klischees in den Köpfen der Leser (und der Interpreten) kann erklären, daß hinter der scheinbaren Bonhomie des Dürrenmattschen Fahnders dessen Monstrosität weitgehend unbeachtet blieb.
»Der Weg führte steil bergan, von weißen Mauern eingefaßt, ließ Rebberg um Rebberg zurück. Tschanz stieg immer höher, ruhig, langsam, unbeirrbar, die rechte Hand in der Manteltasche. Manchmal kreuzte eine Eidechse seinen Weg, Bussarde stiegen auf, das Land zitterte im Feuer der Sonne, als wäre es Sommer; er stieg unaufhaltsam. Später tauchte er in den Wald ein, die Reben verlassend. Es wurde kühler. Zwischen den Stämmen leuchteten die weißen Jurafelsen. Er stieg immer höher hinan, immer im gleichen Schritt gehend, immer im gleichen stetigen Gang vorrückend, und betrat die Felder. Es war Acker- und Weideland; der Weg stieg sanfter. Er schritt an einem Friedhof vorbei, ein Rechteck, von einer grauen Mauer eingefaßt, mit weit offenem Tor. Schwarzgekleidete Frauen schritten auf den Wegen, ein alter gebückter Mann stand da, schaute dem Vorbeiziehenden nach, der immer weiterschritt, die rechte Hand in der Manteltasche.«
Der Richter und sein Henker
Das Land um Schernelz. So beginnt der Anmarsch des Henkers zum letzten Gefecht: Tschanz, von Bärlach in die Rolle eines satirischen Ödipus manövriert, soll einen Mord aufklären, den er selbst auf dem Gewissen hat. Um ihn zu vertuschen, begeht er einen zweiten, und auf den kommt es dem Alten an. Vor Jahrzehnten schloß der mit einem Mann, der jetzt von Lamboing, einem Kaff am Chasseral, aus irgendwelche Waffenschiebereien betreibt, in Istanbul eine Wette ab. Die Unberechenbarkeit des menschlichen Verhaltens, setzte Bärlach, verunmögliche das perfekte Verbrechen, der Zufall fördert es früher oder später zutag. Sein Gegner: Gerade die Verworrenheit der menschlichen Verhältnisse erlaube Verbrechen, die nie aufzuklären, geschweige denn zu beweisen seien.
Die Differenz ist freilich noch eine andere, das Thema orgelt als Generalbaß durch das gesamte Werk Dürrenmatts: die zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Justiz und Moral. Weil er Gastmann die Verbrechen, von denen er weiß, nicht beweisen kann, beschließt er, ihn selbst zu richten – indem er sich eines anderen Mörders als Henker bedient und ihn für einen Mord sühnen läßt, den er nicht begangen hat. Bärlach selbst, den Magenkrebs im Leib, hat gerade noch ein Jahr zu leben; das kommt als existentielle Pointe dazu. Und als ästhetische: daß der geniale Schachspieler, der hybride selbsternannte Richter, auch nur eine Marionette ist, in der Hand des Autors nämlich, der sich selbst, in der Bibliothek seines Schernelzer Hochstands sitzend, ironisch in Erinnerung
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