Der Richter und sein Henker (German Edition)
bringt, eine »dunkle Masse zwischen den Fenstern«: etwas beleidigt darüber, daß ihm der Polizist keinen Mord zutraut (das Thema des späteren Hörspiels Abendstunde im Spätherbst klingt an).
Zwei Szenen sind in diesem Buch, das insgesamt ein Geniestreich ist (unerheblich die Mängel, etwa in der Motivation von Tschanz’ erstem Mord), von solcher theatralischer Schärfe, daß sie schon den Dürrenmatt der großen Stücke ankündigen. In der ersten taumeln zwei betrunkene Sendboten Gastmanns wie zwei veritable Shakespeare-Erfindungen in eine Berner Beerdigung:
»›Ihr Männer‹, sagte er irgendwo im Regen, fast unhörbar durch die Wasserschleier hindurch: ›Ihr Männer, unser Kamerad Schmied ist nicht mehr.‹ Da unterbrach ihn ein wilder, grölender Gesang:
›Der Tüfel geit um,
Der Tüfel geit um,
er schlat die Menscher alli krumm!‹›
Zwei Männer in schwarzen Fräcken kamen über den Kirchhof getorkelt. Ohne Schirm und Mantel waren sie dem Regen schutzlos preisgegeben. Die Kleider klebten an ihren Leibern. Auf dem Kopfe hatte jeder einen Zylinder, von dem das Wasser über ihr Gesicht floß. Sie trugen einen mächtigen, grünen Lorbeerkranz, dessen Band zur Erde hing und über den Boden schleifte. Es waren zwei brutale, riesenhafte Kerle, befrackte Schlächter, schwer betrunken, stets dem Umsinken nah, doch da sie nie gleichzeitig stolperten, konnten sie sich immer noch am Lorbeerkranz zwischen ihnen festhalten, der wie ein Schiff in Seenot auf und nieder schwankte. Nun stimmten sie ein neues Lied an:
›Der Müllere ihre Ma isch todet,
d’Müllere läbt, sie läbt,
d’Müllere het der Chnecht ghürotet,
d’Müllere läbt, sie läbt.‹
Sie rannten auf die Trauergemeinde zu, stürzten in sie hinein, zwischen Frau Schönler und Tschanz, ohne daß sie gehindert wurden, denn alle waren wie erstarrt, und schon taumelten sie wieder hinweg durch das nasse Gras, sich aneinander stützend, sich umklammernd, über Grabhügel fallend, Kreuze umwerfend in gigantischer Trunkenheit. Ihr Singsang verhallte im Regen, und alles war wieder zugedeckt.«
Die zweite, darauf hat schon Elisabeth Brock-Sulzer hingewiesen, ist die Schlußszene, in welcher Bärlach seinen Henker Tschanz des Mordes überführt, während eines Abendmahls, das an das von Bockelson in Es steht geschrieben würdig anschließt. Der todkranke Kommissär schlingt in vernichtender Lebensgier noch einmal die Welt in sich, »mächtig und gelassen, das Bild einer übermenschlichen Überlegenheit, ein Tiger, der mit seinem Opfer spielt«.
Der Kriminalroman als Philosophie
Hier setzt Der Verdacht ein, Bärlach, nach der kulinarischen Attacke auf den eigenen Leib, liegt im Spital, wird von seinem Arzt mit dem Verdacht infiziert, der in Zürich in einer Modeklinik praktizierende Chirurg Emmenberger (!) sei kein anderer als der Sadist, der unter den Nazis in einem Lager Insassen ohne Anästhesie operiert, d. h. zu Tode gefoltert habe. Bärlach läßt sich nach Zürich verlegen, wird von Emmenberger durchschaut (wie er diesen durchschaut) und auf die Hinrichtung im OP vorbereitet. Anstelle der bernischen Dämonie in Der Richter und sein Henker tritt die eines Gruselfilms würdige Horrorszenerie (Reminiszenzen des kinosüchtigen Gymnasiasten FD an zahlreiche Horrorfilme in der Nachfolge des Dr. Mabuse sind wahrscheinlich), ein mythisches Duo, ein Zwerg und der riesenhafte, dem KZ entronnene Jude »Gulliver«, ein ahasverischer Deus ex machina. Im Zentrum aber stehen zwei Gespräche des doppelt todgeweihten Bärlach, eines mit der von ihren kommunistischen Idealen zu Emmenberger übergelaufenen Morphinistin Dr. Mar- lock und eines mit Emmenberger selbst. In beiden geht es um Fragen, die der Normalkonsument von Kriminalromanen so querlesend überfliegt wie ein jugendlicher Karl-May-Schlinger die Mystizismen im dritten Band des Silbernen Löwen: um den Dürrenmattschen Zentralgegensatz zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Schon in Der Richter und sein Henker sagt der Schriftsteller, auf Gastmann zurückkommend, »diesen einen Pol des Bösen« (wer ist der andere? Tschanz? Nein: Bärlach!): »Bei ihm ist das Böse nicht der Ausdruck einer Philosophie oder eines Triebs, sondern seiner Freiheit: der Freiheit des Nichts.« Jetzt offenbart sich dieser andere Henker als Materialist: »Es ist Unsinn, an die Materie zu glauben und zugleich an einen Humanismus, man kann nur an die Materie glauben und an das Ich. Es gibt keine Gerechtigkeit – wie könnte die Materie
Weitere Kostenlose Bücher