Der Richter
seines Vaters wegbringen lassen, bevor Forrest eintraf? Eine Zeit lang dachte er hektisch über diese Frage nach, dann las er das Testament. Es war ein schlichtes, nur eine Seite langes Schriftstück, das keinerlei Überra-schungen barg.
Er beschloss, bis achtzehn Uhr zu warten. War sein Bruder bis dahin immer noch nicht da, würde er das Bestattungsinstitut anrufen.
Der Richter war immer noch tot, als Ray ins Arbeitszimmer zurückkehrte, doch nun war das keine Überraschung mehr. Nachdem er das Kuvert mit dem Testament wieder neben die Schreibmaschine gelegt hatte, blätterte er einige Papiere durch. Zunächst befiel ihn dabei ein merkwürdiges Gefühl, aber er war als Nachlassverwalter eingesetzt und würde bald für diesen ganzen Papierkram verantwortlich sein. Er musste eine Liste der Vermögenswerte erstellen, die Rechnungen bezahlen, das Testament rechtswirksam bestätigen lassen und alles wie vorgesehen erledigen. Durch den letzten Willen wurde das Erbe zu gleichen Teilen zwischen den beiden Söhnen aufgeteilt, wodurch sich alles sauber und einigermaßen unkompliziert über die Bühne bringen ließ.
Während die Zeit verging und Ray auf seinen Bruder wartete, durchstö-
berte er das Arbeitszimmer. General Forrest beobachtete von dem Porträt herab aufmerksam jeden seiner Schritte. Noch immer bewegte Ray sich leise, ganz so, als wollte er seinen toten Vater nicht aufwecken. Die Schubladen des Sekretärs waren mit Kuverts und Briefpapier gefüllt, auf dem Mahagonischreibtisch lag ein Stoß Schreiben jüngeren Datums.
An der Wand hinter dem Sofa befanden sich Bücherregale mit juristischen Abhandlungen, die augenscheinlich seit Jahrzehnten niemand mehr angerührt hatte. Die Regale waren aus Nussbaumholz und einst als Geschenk von einem Mörder geschreinert worden, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts durch den Großvater des Richters aus dem Gefängnis freigekommen war. Zumindest behauptete das die Familienlegende, die vor Forrest nie jemand in Zweifel gezogen hatte. Die Regale ruhten auf einem ebenfalls aus Nussbaumholz gefertigten, etwa einen Meter hohen Kabinettschrank, der sechs kleine Türen hatte. Noch nie hatte Ray hineingesehen. Davor stand das Sofa, das den Schrank fast völlig verbarg.
Eine der Türen stand einen Spaltbreit offen, und Ray sah einen ordentlichen Stapel dunkelgrüner Pappkartons von Blake & Son, die ihm schon seit Kindesbeinen vertraut waren. Blake & Son war eine alteinge-sessene Druckerei in Memphis, bei der seit eh und je praktisch jeder Rechtsanwalt und Richter aus dem gesamten Bundesstaat seine mit Briefköpfen versehenen Bögen und Kuverts bestellte. Ray kauerte sich nieder und zwängte sich hinter das Sofa, um einen genaueren Blick auf die engen, düsteren Fächer zu werfen.
Ein Karton für Briefumschläge, dessen Deckel fehlte, stand zwischen der offenen Tür und dem Innenraum des Schranks. Von Kuverts war freilich nichts zu sehen. In dem Karton war Bargeld - zahllose ordentlich gestapelte Einhundert-Dollar-Scheine. Der Pappkarton war etwa fünfunddreißig Zentimeter tief, fünfundfünfzig lang und vielleicht fünfzehn hoch. Ray hob ihn an - er war schwer. Und in den Tiefen des Kabinettschranks waren noch Dutzende dieser Kartons verstaut.
Er zog einen weiteren Karton hervor. Auch dieser war mit Einhundert-Dollar-Scheinen gefüllt. Beim dritten verhielt es sich nicht anders.
Im vierten Karton wurden die Banknoten von gelben Papierbanderolen zusammengehalten, die mit dem Aufdruck »$ 2000« versehen waren.
Ray zählte rasch und kam auf dreiundfünfzig Bündel.
Hundertsechstausend Dollar.
Auf allen vieren kroch er an der Hinterseite des Sofas entlang, wobei er sich größte Mühe gab, nicht die Rückenlehne zu berühren und den Richter in seiner ewigen Ruhe zu stören. Nacheinander öffnete er die anderen Türen des Kabinettschranks - es waren mindestens zwanzig dunkelgrüne Kartons von Blake & Son.
Er stand auf, ging zur Tür des Arbeitszimmers und trat dann durch die Diele auf die Veranda, wo er erst einmal frische Luft schnappen wollte.
Ihm war etwas schwindelig, und als er sich auf die oberste Stufe der Treppe zur Veranda setzte, rollte ein großer Schweißtropfen über seine Nase und fiel auf seine Hose. Obgleich es schwer war, einen klaren Kopf zu behalten, brachte Ray es dennoch fertig, ein paar schnelle Re-chenaufgaben zu bewältigen. Wenn er davon ausging, dass es zwanzig Kartons gab und dass jeder gut einhunderttausend Dollar enthielt, dann war das weitaus
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