Der Richter
geweint, und das war für sie etwas durchaus Ungewöhnliches.
Einmal hatte Ray in den Sommerferien für seinen Vater gearbeitet und das Pech gehabt, einen schlimmen Fall von Kindesmissbrauch begleiten zu müssen. Die Zeugenaussage war so traurig und Mitleid erregend gewesen, dass allen im Saal, einschließlich dem Richter und sämtlichen Anwälten, die Tränen in den Augen standen. Die einzigen trockenen Augen gehörten zu Claudia, deren versteinerte Miene keinerlei Regung zeigte.
»Ich kann nicht glauben, dass er tot ist«, sagte sie und blies eine Rauchwolke an die Decke.
»Er ist fünf Jahre lang gestorben, Claudia. Es war keine Überraschung.«
»Trotzdem ist es traurig.«
»Es ist sehr traurig, aber er hat lange gelitten. Der Tod war ein Segen für ihn.«
»Er wollte nicht, dass ich ihn besuche.«
»Lass uns jetzt nicht die alte Geschichte wieder aufwärmen, okay?«
Fast zwei Jahrzehnte lang hatte die besagte Geschichte in Clanton in verschiedensten Versionen für Gesprächsstoff gesorgt. Ein paar Jahre nach dem Tod von Rays Mutter ließ sich Claudia aus nie ganz klar ge-wordenen Gründen von ihrem Mann scheiden. Die eine Hälfte der Stadt glaubte, der Richter habe ihr versprochen, sie nach der Scheidung zu heiraten. Die andere war davon überzeugt, dass der Richter als echter Atlee nie die Absicht gehabt hatte, eine nicht Standesgemäße wie Claudia zu ehelichen, und dass Claudia allein deshalb geschieden wurde, weil ihr Mann sie mit einem anderen erwischt hatte. jahrelang genossen die beiden die Vorzüge des Ehelebens, wenn auch ohne Trauschein und gemeinsames Heim. Sie versuchte weiterhin, den Richter dazu zu bewegen, sie vor den Traualtar zu führen, doch er vertröstete sie immer wieder. Offensichtlich hatte er alles, was er wollte.
Schließlich stellte sie ihm ein Ultimatum, was sich als schlechte Strategie herausstellte. Ultimaten beeindruckten Reuben Atlee nicht im Mindesten. Ein Jahr, bevor er aus dem Amt gewählt wurde, heiratete sie einen neun Jahre jüngeren Mann. Der Richter setzte sie umgehend vor die Tür, woraufhin in den Coffeeshops und Strickzirkeln Clantons über nichts anderes mehr geredet wurde. Nach ein paar harten Jahren starb ihr junger Gatte. Sie war einsam, genau wie der Richter. Doch sie hatte ihn, wie er fand, mit ihrer zweiten Heirat betrogen, und das verzieh er ihr nicht.
»Wo ist Forrest?«, fragte sie.
»Er dürfte bald hier sein.«
»Was macht er?«
»Was Forrest eben so macht.«
»Soll ich gehen?«
»Das liegt ganz bei dir.«
»Ich bleibe lieber noch ein bisschen, Ray. Ich muss mit jemandem reden.«
»Hast du denn keine Freunde?«
»Nein. Reuben war mein einziger Freund.«
Er zuckte zusammen, als sie seinen Vater Reuben nannte. Sie steckte sich die Zigarette zwischen ihre klebrig roten Lippen. Es war ein blasses Rot, wegen der Trauer, nicht das Hellrot, für das sie berühmt gewesen war. Sie war mindestens siebzig, sah aber jung aus für ihr Alter. Immer noch aufrecht und schlank, trug sie ein enges Kleid, das keine andere Siebzigjährige in Ford County je anzuziehen gewagt hätte. An den Ohren und an einem Finger glitzerten Diamanten, wobei Ray nicht sagen konnte, ob sie echt waren. Außerdem trug sie einen hübschen goldenen Anhänger und zwei goldene Armbänder.
Sie war eine gealterte Femme fatale, doch ihr Vulkan war noch längst nicht erloschen. Er würde Harry Rex fragen, mit wem sie zurzeit liiert war.
Er goss Kaffee nach und sagte: »Worüber möchtest du denn reden? «
»Über Reuben.«
»Mein Vater ist tot. Ich wühle nicht gern in der Vergangenheit herum. «
»Könnten wir nicht Freunde sein?«
»Nein. Wir beide haben einander noch nie gemocht. Wir werden uns jetzt nicht am Grab in die Arme fallen. Warum sollten wir das tun? «
»Ich bin eine alte Frau, Ray.«
»Und ich lebe in Virginia. Wir werden heute gemeinsam die Beerdigung durchstehen und uns dann nie wieder sehen. Wie wär’s damit? «
Sie zündete sich noch eine Zigarette an und weinte ein bisschen. Ray dachte an das Chaos im Arbeitszimmer. Was sollte er Forrest erzählen, wenn er jetzt hereinplatzte und überall Fußspuren und herumliegende Kartons sah? Außerdem, wenn Forrest Claudia an diesem Tisch sitzen sah, würde er ihr ohne zu zögern an die Gurgel gehen.
Ray und Forrest hatten lange den Verdacht gehegt, dass der Richter ihr wesentlich mehr bezahlte, als es für Gerichtsstenotypistinnen allgemein üblich war, auch wenn sie nie Beweise dafür gefunden hatten. Ein kleines
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