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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Richter seine Gewinne geheim halten sollen? Warum hatte er das Geld dann nicht verschenkt wie den Rest seines Vermö-
    gens?
    Kurz nach drei gab Ray auf und verließ sein kostenloses Zimmer, um bis zum Morgengrauen im Auto zu schlafen.

11
    Die Vordertür war leicht angelehnt, kein gutes Zeichen in Anbetracht dessen, dass es acht Uhr morgens war und das Haus leer stand. Ray starrte eine Minute lang auf den Spalt und konnte sich nicht entscheiden, ob er hin eingehen sollte, doch im Grunde war ihm längst klar, dass er gar keine Wahl hatte. Er gab der Tür einen Stoß und ballte mit einem tiefen Atemzug die Fäuste, als bestünde kein Zweifel daran, dass der Dieb noch im Haus war. Quietschend ging die Tür auf. Als das Licht in die Diele fiel, entdeckte Ray zwischen Stapeln von Kartons Fußspuren auf dem Boden. Der Einbrecher war über den Rasen hinter dem Haus gekommen und aus irgendeinem unerfindlichen Grund durch die Vordertür wieder gegangen.
    Langsam nahm Ray den Revolver aus der Tasche, obwohl er noch immer ungeladen war.
    Im Arbeitszimmer des Richters lagen alle siebenundzwanzig grünen Blake & Son-Kartons über den Boden verteilt. Das Sofa war umgestürzt worden. Die Schranktüren am Fuß des Bücherregals standen offen. Der Rollverschluss am Schreibtisch schien unberührt, doch die Papiere, die auf der Platte gelegen hatten, waren ebenfalls überall verstreut.
    Der Eindringling hatte offenbar die Kartons hervorgeholt und geöffnet und sie, nachdem er begriffen hatte, dass sie leer waren, in einem Wutanfall zertrampelt und um sich geworfen. Trotz der Stille spürte Ray die Gewalt-tätigkeit, die hier am Werk gewesen war, und allein der Gedanke daran verursachte ihm weiche Knie.
    Das Geld könnte ihn umbringen.
    Als er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, stellte er das Sofa ordentlich hin und sammelte die Papiere auf. Er war gerade dabei, die Kartons wegzuräumen, als er auf der vorderen Veranda etwas hörte. Er lugte durch das Fenster und sah eine alte Frau an die Tür klopfen.
    Claudia Gates hatte den Richter besser gekannt als jeder andere. Sie war Gerichtsstenotypistin, Sekretärin, Chauffeuse und laut Gerüchten, die schon seit Rays früher Kindheit kursierten, vieles mehr für ihn gewesen. Fast dreißig Jahre lang hatten der Richter und sie die sechs Countys des 25.
    Chancery District abgefahren. Häufig waren sie morgens um sieben in Clanton aufgebrochen und erst lange nach Einbruch der Dunkelheit zu-rückgekehrt. Wenn sie nicht gerade in einer Verhandlung waren, saßen sie zusammen im Büro des Richters im Gerichtsgebäude, wo sie Protokolle tippte, während er seinen Papierkram erledigte.
    Ein Anwalt namens Turley hatte sie während einer Mittagspause im Bü-
    ro einmal in einer kompromittierenden Position überrascht und den Fehler gemacht, die Episode herumzuerzählen. Daraufhin verlor er ein Jahr lang jeden Fall am Chancery Court und bekam keine Mandanten mehr. Nach vier Jahren hatte Richter Atlee es geschafft, dass ihm die Zulassung entzo-gen wurde.
    »Hallo, Ray«, sagte Claudia durch die Scheibe. »Darf ich hereinkom-men?«
    » Klar«, erwiderte er und öffnete die Tür.
    Ray und Claudia hatten sich nie leiden können. Er hatte immer das Ge-fühl gehabt, dass sie all die Zuneigung und Aufmerksamkeit vom Richter bekam, die ihm und Forrest zustanden, und sie wiederum betrachtete ihn als Bedrohung. Wenn es um Richter Atlee ging, war für sie alles und jeder eine potenzielle Bedrohung.
    Sie hatte wenige Freunde und noch weniger Verehrer. Da sie ihr Leben in Gerichtssälen verbracht hatte, war sie rüde und herzlos. Außerdem gab sie sich arrogant, weil sie der Schatten eines großen Mannes hatte sein dürfen.
    »Es tut mir so Leid«, sagte sie.
    »Mir auch.«
    Als sie am Arbeitszimmer vorbeikamen, schloss Ray die Tür und sagte:
    » Geh da nicht rein. « Claudia bemerkte die Fußspuren des Eindringlings nicht.
    »Sei nett zu mir, Ray«, bat sie.
    »Warum?«
    Sie gingen in die Küche. Ray setzte Kaffee auf, und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch. »Darf ich rauchen?«, fragte sie.
    »Von mir aus.« Rauch doch, bis du erstickst, dachte er. In den schwarzen Anzügen seines Vaters hatte immer der bittere Geruch ihrer Zigaretten gehangen. Sie hatte im Auto, im Amtszimmer, in seinem Büro und wahrscheinlich auch im Bett rauchen dürfen. Überall, außer im Gerichtssaal.
    Der rasselnde Atem, die heisere Stimme, die zahllosen Falten um die Augen … die Segnungen des Nikotins.
    Sie hatte

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