Der Richter
Er wollte den Trauergottesdienst besprechen, der in zwei Stunden beginnen würde. Claudia umarmte Ray, bevor er sie zu ihrem Wagen begleitete. Dann umarmte sie ihn noch einmal und verabschiedete sich. »Tut mir Leid, dass ich nicht netter zu dir war«, flüsterte sie, als er ihr die Wagentür öffnete.
»Auf Wiedersehen, Claudia. Wir sehen uns in der Kirche.«
»Er hat mir nie vergeben, Ray.«
»Ich vergebe dir.«
»Wirklich?«
»Ja. Lass uns Freunde sein.«
»Ich bin dir so dankbar.« Sie umarmte ihn ein drittes Mal und fing wieder an zu weinen. Er half ihr beim Einsteigen; sie fuhr noch immer Cadillac. Bevor sie den Zündschlüssel im Schloss drehte, fragte sie:
»Hat er dir Jemals vergeben, Ray?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Lass uns ihn begraben.«
»Er konnte schon ein fieser alter Hurensohn sein, nicht wahr«, Sie lä-
chelte unter Tränen.
Ray musste lachen. Die siebzigjährige ehemalige Geliebte seines toten Vaters hatte den Richter gerade einen Hurensohn genannt.
»Ja«, pflichtete er ihr bei. »Das ist wohl wahr.«
12
Die Sargträger schoben Richter Atlee in seinem eleganten Eichensarg den Mittelgang entlang und stellten ihn am Altar vor der Kanzel ab, wo Reverend Palmer in einer schwarzen Soutane wartete. Zur großen Enttäuschung der Trauernden blieb der Sarg zu. Die meisten hätten den Verstorbenen gern ein letztes Mal gesehen; es war ein altes Ritual des Südens, das nur den seltsamen Zweck haben konnte, den Kummer noch zu verstärken. »Um Himmels willen, nein«, hatte Ray höflich zu Mr. Magargel gesagt, als der ihn darauf angesprochen hatte. Nachdem alles arrangiert worden war, breitete Palmer langsam die Arme aus, und als er sie wieder sinken ließ, nahm die Menge Platz.
In der ersten Bank zu seiner Rechten saßen die Familienangehörigen, also die beiden Söhne. Ray trug seinen neuen Anzug und sah ziemlich müde aus. Forrest hatte Jeans und eine schwarze Wildlederlacke an und wirkte bemerkenswert nüchtern. Hinter ihnen saßen Harry Rex und die anderen Sargträger, noch weiter hinten ein trauriges Grüppchen alter Richter, die selbst längst mit einem Fuß im Grab standen. In der vordersten Bank lin-kerhand vom Reverend hatten verschiedene Honoratioren Platz genommen: Politiker, ein ehemaliger Gouverneur und ein paar Richter vom Obersten Gerichtshof des Staates Mississippi. So viel geballte Macht hatte Clanton noch nie gesehen.
Die Kirche war voll, selbst an den Seitenwänden unter den Buntglas-scheiben standen Trauergäste. Auf der Empore drängten sich Menschen, und selbst ins Untergeschoss wurde der Gottesdienst akustisch übertragen, so dass auch hier Freunde und Bewunderer teilnehmen konnten.
Ray war beeindruckt von der Anzahl der Trauergäste. Forrest sah bereits auf die Uhr. Er war vor einer Viertelstunde gekommen und gleich von Harry Rex - nicht von Ray - zusammengestaucht worden. Sein neuer Anzug sei schmutzig gewesen, behauptete er, außerdem habe ihm Ellie die Lederjacke vor Jahren gekauft und gefunden, sie wäre für diese Gelegenheit bestens geeignet.
Wegen ihrer hundertvierzig Kilo Lebendgewicht hatte Ellie das Haus nicht verlassen, und Ray und Harry Rex waren dankbar dafür. Sie hatte es irgendwie geschafft, Forrest nüchtern zu halten, doch ein Rückfall lag in der Luft. Aus tausenderlei Gründen wünschte Ray sich nichts mehr, als so schnell wie möglich nach Virginia zurückzukehren.
Der Reverend sprach ein kurzes Gebet, einen Dank für das Leben eines großen Mannes. Dann kündigte er einen Jugendchor an, der bei einem Mu-sikwettbewerb in New York zu nationalen Ehren gelangt war. Richter Atlee hatte die Reise mit dreitausend Dollar mitfinanziert, wie Palmer erwähnte.
Die zwei Stücke, die der Chor sang, hatte Ray noch nie gehört, aber sie wurden wirklich wunderschön vorgetragen.
Die erste Trauerrede - es würde gemäß Rays Anweisung nur zwei kurze geben - wurde von einem alten Mann gehalten, der es kaum bis zur Kanzel schaffte, dann aber die Menge mit einer vollen und kräftigen Stimme überraschte. Er hatte vor ungefähr einhundert Jahren mit Reuben Jura studiert.
Nach zwei pointenlosen Anekdoten begann seine kraftvolle Stimme zu schwinden.
Der Reverend las ein paar Bibeltexte vor und sprach tröstende Worte zum Verlust einer geliebten Person, selbst wenn es sich dabei um einen alten Mann handelte, der ein erfülltes Leben hinter sich hatte.
Die zweite Trauerrede hielt ein junger Schwarzer
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