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Der Richter

Der Richter

Titel: Der Richter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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niemand anders sie mehr lesen konnte. »Steht was Interessantes drin?«, fragte Ray. Er war nicht auf dem Laufenden, denn in Maple Run gab es keinen Fernseher.
    »Nicht ein verdammtes Wort«, brummte Harry Rex, die Augen starr auf die Schlagzeilen gerichtet. »Ich werde dir die Nachrufe schicken.« Er ließ einen Finger über einen zerknitterten Abschnitt gleiten, der etwa so groß war wie ein Taschenbuch. »Willst du das lesen?«
    »Nein, ich muss gleich weg.«
    »Isst du vorher noch was?«
    »Ja. «
    »He, Dell!«, brüllte Harry Rex durch das Café. Überall an der Bar und an sämtlichen Tischen saßen ausschließlich Männer beim Essen und Trinken.
    »Dell ist immer noch hier?«, fragte Ray.
    »Sie wird nicht älter«, erwiderte Harry Rex und schwenkte seinen Arm.
    »Ihre Mutter ist achtzig und ihre Großmutter hundert. Dell wird noch da sein, wenn wir schon lange unter der Erde liegen. «
    Dell mochte es nicht, wenn man ihr so nachschrie. Sie kam mit der Kaf-feekanne und einer Grimasse, die sich jedoch sofort in Wohlgefallen auflöste, als sie Ray erkannte. Sie umarmte ihn und sagte: »Ich habe dich bestimmt zwanzig Jahre lang nicht gesehen!« Dann setzte sie sich, hängte sich bei ihm ein und sprach ihm ihr Beileid zum Tod des Richters aus.
    »War das nicht eine herrliche Beerdigung?«, fragte Harry Rex.
    »Ich kann mich nicht erinnern, jemals bei einer schöneren gewesen zu sein«, stimmte sie zu, als sollte sich Ray dadurch irgendwie getröstet oder beeindruckt fühlen.
    »Danke«, entgegnete er. Seine Augen füllten sich mit Tränen, allerdings nicht aus Trauer, sondern wegen der Mixtur aus billigen Parfüms, die sie benutzte.
    Dell sprang auf und sagte: »Was wollt ihr essen? Geht aufs Haus.«
    Harry Rex entschied für sie beide und bestellte Würstchen und Pfannkuchen, eine große Portion für sich selbst, eine kleinere für Ray. Dell verschwand und hinterließ eine intensive Duftwolke.
    »Du hast eine lange Fahrt vor dir. Die Pfannkuchen halten gut vor.«
    Nach drei Tagen in Clanton hatte Ray bereits einiges zu sich genommen, das für seinen Geschmack ein wenig zu gut vorhalten würde. Er freute sich auf ausgiebige Joggingrunden durch die Landschaft um Charlottesville und leichtere Kost.
    Zu seiner großen Erleichterung erkannte ihn sonst niemand. Zu dieser frühen Stunde waren keine anderen Anwälte im Coffee Shop und auch sonst niemand, der den Richter gut genug gekannt hätte, um bei seiner Beerdigung gewesen zu sein. Die Polizisten und Arbeiter waren viel zu beschäftigt mit dem Erzählen von Witzen und Gerüchten, um ihre Umgebung wahrzunehmen. Erstaunlicherweise plapperte Dell nicht. Nach der ersten Tasse Kaffee entspannte Ray sich und begann, die Gesprächsfetzen und das Gelächter um sich herum zu genießen.
    Dell kam mit einer Menge Essen zurück, die für acht Leute ausgereicht hätte: Pfannkuchen, ein komplettes Schwein, zu Würsten verarbeitet, ein Korb voller Brötchen, eine Schale Butter und eine Schüssel mit hausge-machter Marmelade. Wer aß wohl zu Pfannkuchen Brötchen? Sie klopfte Ray auf die Schulter und sagte: »Er war so ein süßer Mann.« Damit ging sie.
    »Dein Vater war alles Mögliche«, sagte Harry Rex und überschwemmte seine Pfannkuchen mit einem Riesenschwall Sirup, der ebenfalls selbst gemacht war. »Aber süß war er nicht.«
    »Nein, ganz bestimmt nicht«, pflichtete Ray bei. »War er jemals hier?«
    »Nicht dass ich wüsste. Er frühstückte nicht, mochte keine Menschenan-sammlungen, hasste Smalltalk und schlief gern so lang wie möglich. Ich glaube nicht, dass das hier ein Ort für ihn gewesen wäre. In den letzten neun Jahren hat man ihn am Clanton Square nicht oft gesehen.«
    »Woher kennt Dell ihn dann?«
    »Aus dem Gericht. Eine ihrer Töchter bekam ein Baby von einem Mann, der schon eine Familie hatte. Verdammt schmutzige Geschichte.« Irgendwie schaffte Harry Rex es, sich eine Portion Pfannkuchen in den Mund zu schaufeln, an der selbst ein Pferd erstickt wäre. Es folgte ein Bissen Wurst.
    »Und natürlich hast du mitten dringesteckt.«
    »Natürlich. Der Richter hat ihr zu ihrem Recht verholfen.« Mampf, mampf.
    Ray fühlte sich genötigt, ebenfalls einen großen Bissen von seinem Teller zu nehmen. Er beugte sich vor und hob eine schwer beladene, vor Marmelade triefende Gabel zum Mund.
    »Der Richter war eine lebende Legende, das weißt du, Ray. Die Leute hier haben ihn geliebt. Er hat bei den Wahlen in Ford County nie weniger als achtzig Prozent bekommen.«
    Ray

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