Der Richter
ja. An einem guten Abend hat er schon mal ein paar Tausender mitgenommen.«
»Und an einem schlechten?«
»Fünfhundert, das war sein Limit. Wenn er am Verlieren war, wusste er genau, wann er aufhören musste. Das ist das Geheimnis beim Spielen. Du musst wissen, wann es Zeit ist aufzuhören, und du musst die Kraft haben zu gehen. Er hatte sie, ich nicht.«
»Ging er auch mal allein?«
»Ja, einmal habe ich ihn gesehen. Einmal war ich heimlich in einem neuen Kasino. Wahnsinn, inzwischen gibt es fünfzehn … Ich war gerade beim Blackjack, als in der Nähe an einem der Würfeltische ein Tumult ausbrach. Mitten im Gewühl entdeckte ich Richter Atlee mit einer Base-ballmütze auf dem Kopf, die ihn unkenntlich machen sollte. Seine Tarnun-gen wirkten nicht immer, denn ich hörte so einiges in der Stadt. Viele Leute gingen in die Kasinos, und er wurde des Öfteren gesehen.«
»Wie oft ging er hin?«
»Keine Ahnung. Er musste niemandem Rechenschaft ablegen. Ich hatte einen Mandanten, einen von den Higginbothan-Jungs, die Gebrauchtwagen verkaufen. Er hat mir erzählt, dass er ihn um drei Uhr morgens im Treasure Island am Würfeltisch gesehen hat. Ich schätze, er suchte sich so bizarre Tageszeiten aus, um niemandem über den Weg zu laufen.«
Ray überschlug schnell im Kopf: Wenn der Richter fünf Jahre lang dreimal die Woche gespielt und jedes Mal zweitausend Dollar gewonnen hatte, würde sich sein Gesamtgewinn auf rund eineinhalb Millionen belaufen.
»Könnte er auf diese Weise neunzigtausend Dollar zusammenbekommen haben?«, fragte er. Die Summe klang lächerlich niedrig.
»Alles ist möglich. Aber warum hätte er das Geld verstecken sollen?«
»Sag du es mir.«
Sie dachten eine Welle darüber nach. Harry Rex leerte sein Bier und zündete sich eine Zigarre an. Ein Deckenventilator über dem Schreibtisch verteilte den Rauch träge im Raum. Harry Rex blies eine Wolke direkt in die Flü-
gel hinauf und sagte: »Man muss die Gewinne versteuern. Und da er nicht wollte, dass irgendjemand etwas von seiner Spielerei erfuhr, hat er es vielleicht einfach geheim gehalten. «
»Aber hat das Kasino nicht Unterlagen darüber, wenn man über bestimmte Gewinnsummen kommt?«
»Ich habe nie irgendwelche Unterlagen gesehen.«
»Aber wenn du gewonnen hättest?«
»Ja, dann schon. Ich hatte einen Mandanten, der einmal elftausend Dollar am Fünf-Dollar-Spielautomaten gewonnen hat. Er musste als Meldung für die Steuerbehörde ein Formular ausfüllen.«
»Was ist mit Craps?«
»Wenn man mehr als zehntausend in Jetons auf einmal gewinnt, gibt es Schreibkram. Unter zehn passiert nichts. Das Gleiche gilt für Bargeldtrans-aktionen bei Banken.«
Ach bezweifle, dass der Richter Wert auf Dokumente legte.«
»Das tat er ganz sicher nicht.«
»Hat er nie Bargeld erwähnt, wenn ihr zusammen Testamente aufgesetzt habt?«
»Nie. Das Geld ist ein Rätsel, Ray. Ich kann es auch nicht erklären. Ich habe keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging. Sicher war ihm klar, dass es jemand finden würde.«
»Okay, die Frage ist nur: Was machen wir jetzt damit?«
Harry Rex nickte und steckte sich die Zigarre in den Mund. Ray lehnte sich zurück und beobachtete den Ventilator. Sie überlegten lange, was sie mit dem Geld anfangen sollten. Keiner von beiden wollte vorschlagen, es einfach weiterhin geheim zu halten. Harry Rex beschloss, sich ein zweites Bier zu holen, und diesmal wollte Ray auch eines. Während die Minuten verstrichen, wurde klar, dass das Thema Geld an diesem Tag nicht mehr diskutiert werden würde. In ein paar Wochen, wenn der Nachlass eröffnet und eine Bestandsliste des Vermögens erstellt war, würden sie wieder über die Sache reden. Oder vielleicht auch nicht.
Zwei Tage lang hatte Ray mit sich gerungen, ob er Harry Rex von seinem Fund erzählen sollte, wenigstens von einem Teil davon. Doch nachdem er es getan hatte, gab es mehr Fragen als Antworten.
Die Herkunft des Geldes hatte sich nicht geklärt. Der Richter hatte gern gewürfelt und war ein guter Spieler gewesen. Aber es war ziemlich un-wahrscheinlich, dass er auf diese Weise in sieben Jahren 3,1 Millionen Dollar zusammenbekommen hatte. Geradezu unmöglich schien es, das zu bewerkstelligen, ohne Unterlagen oder sonstige Spuren zu hinterlassen.
Ray wandte sich wieder den Steuerpapieren zu, während Harry Rex sich durch die Spendenordner wühlte. »Welchen Wirtschaftsprüfer willst du nehmen?«, fragte Ray nach einer Welle.
»Es gibt einige zur Auswahl.«
»Aber keinen
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