Der Richter
23.20 Uhr am Mittwoch, dem 10. Mai. Eigentlich hatte er gehofft, direkt vor dem ‘Hauseingang am Straßenrand parken zu können, doch andere waren vor ihm auf diese Idee gekommen. Der Streifen war noch nie so zugeparkt gewesen. Immerhin hatten alle, wie er trotz seiner Besorgnis mit Befriedigung feststellte, einen Strafzettel an der Windschutzscheibe.
Er hätte in zweiter Reihe parken können, um schnell auszuladen, doch das hätte zu viel Aufsehen erregt. Auf dem kleinen Hof hinter dem Haus waren vier Stellplätze, von denen einer zu seiner Wohnung gehörte, doch das Tor wurde jeden Abend um dreiundzwanzig Uhr abgeschlossen.
Am Ende musste er ein nahezu leer stehendes, düsteres Parkhaus drei Häuserblocks entfernt anfahren. Der gruftartige, mehrstöckige Kasten war tagsüber meist bis auf den letzten Platz besetzt, nachts aber geister-haft verlassen. Mehrere Stunden lang hatte Ray die verschiedenen Alter-nativen abgewogen, während er nach Norden und nach Osten übers Land fuhr; er hatte sich mehrere Strategien überlegt und war irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass das Parkhaus die am wenigsten attraktive Option von allen war. Es war Plan D oder E und stand ganz unten auf der Liste der Möglichkeiten, wie er das Geld in seine Wohnung schaffen konnte. Nun parkte er im ersten Stock, stieg mit seiner Reisetasche aus, schloss den Wagen ab und ließ ihn mit einem mulmigen Gefühl im Magen zurück. Beim Weggehen blickte er sich hektisch um, als würden überall bewaffnete Gangster lauern. Vom Fahren waren seine Beine und sein Rü-
cken ganz steif, dabei hatte er die größte Plackerei noch vor sich.
Die Wohnung sah genauso aus, wie er sie verlassen hatte, was ihn auf seltsame Weise erleichterte. Vierunddreißig Nachrichten warteten auf dem Anrufbeantworter, wahrscheinlich alles Kollegen und Freunde, die ihr Beileid bekunden wollten. Er würde das Band später abhören.
Ganz unten in einem kleinen Schrank im Flur, unter einer Decke, einem Poncho und anderem Kram, den er irgendwann einmal dorthin geworfen hatte, statt ihn auf- oder einzuräumen, fand er eine rote Wimble-don-Tennistasche, die er mindestens zwei Jahre nicht in der Hand gehabt hatte. Sie war außer Koffern, die zu auffällig gewesen wären, das größte Behältnis, das ihm einfiel.
Wenn er eine Waffe besessen hätte, dann hätte er sie eingesteckt. Doch in Charlottesville gab es wenig Kriminalität, und er fand, dass es sich ohne Schießeisen besser lebte. Nach dem Erlebnis, das er am Sonntag in Clanton gehabt hatte, empfand er Revolvern und solchen Dingen gegenüber noch mehr Abscheu. Die Waffe des Richters hatte er, in einem Schrank verschlossen, in Maple Run zurückgelassen.
Ray hängte sich die Tasche über die Schulter, schloss seine Haustür ab und gab sich Mühe, möglichst gelassen durch die Fußgängerzone zu schlendern. Sie war hell erleuchtet, und ein paar Polizisten waren immer unterwegs.
Die einzigen Passanten zu dieser Uhrzeit waren Punks mit grünen Haaren, gelegentlich ein Wermutbruder und ein paar Nachtschwärmer auf dem Heimweg. Nach Mitternacht war Charlottesville ein wirklich verschlafenes Städtchen.
Kurz vor seiner Ankunft war ein Regensturm niedergegangen. Die Stra-
ßen waren nass, und der Wind blies. Auf dem Weg zum Parkhaus kam er an einem jungen Pärchen vorbei, das Händchen haltend spazieren ging, ansonsten sah er niemanden.
Für einen Moment hatte er überlegt, ob er nicht einfach die Müllsäcke selbst befördern sollte. Er konnte sie sich wie der Nikolaus über die Schulter werfen und einen nach dem anderen vom Parkhaus zur Wohnung tragen. So wäre das Geld nach drei Gängen weggeschafft, und er müsste sich nicht noch öfter auf der Straße sehen lassen. Zwei Argumente allerdings hielten ihn davon ab. Erstens: Was, wenn ein Sack riss und eine Million Dollar auf die Straße schneite? Sämtliche Rowdys und Penner der Stadt würden aus ihren Löchern kriechen, angelockt vom Geld wie ein Hai von frischem Blut. Zweitens: jemand, der Müllsäcke in eine Wohnung schleppte statt aus ihr heraus, wirkte möglicherweise verdächtig, so dass vielleicht die Polizei auf ihn aufmerksam wurde.
»Was ist in der Tüte, Sir?«, könnte ein Cop fragen.
»Nichts. Müll. Eine Million Dollar.« Keine der Antworten schien wirklich passend.
Die beste Strategie war es, Geduld zu haben, sich die nötige Zeit zu nehmen, die Summe in kleinen Mengen zu befördern, und sich keine Gedanken darüber zu machen, wie oft er wohl gehen musste.
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