Der Richter
Drogen, wahrscheinlich von beidem. Was auch immer er sich eingeflößt hat, es muss eine Unmenge gewesen sein. Er war so durch den Wind, dass ich erst dachte, er schläft gleich ein, doch dann legte er los und fing an, mich zu beschimpfen.«
»Was wollte er denn?«
»Geld. Nicht gleich, sagt er. Er behauptet, er ist nicht pleite. Aber er macht sich Gedanken über das Haus und das Vermögen und will sicherge-hen, dass du ihn nicht bescheißt.«
»Dass ich ihn nicht bescheiße?«
»Er war zu, Ray, also kann man es ihm nicht vorwerfen. Aber er hat ein paar ziemlich üble Dinge gesagt.«
»Ich höre.«
»Ich erzähle dir das, damit du Bescheid weißt, aber reg dich bitte nicht auf. Ich bezweifle, dass er sich heute Morgen überhaupt daran erinnern kann.«
»Nur weiter, Harry Rex.«
»Er sagte, der Richter hätte dich immer bevorzugt, deshalb hätte er dich auch zum Nachlassverwalter bestimmt. Du hättest immer mehr von eurem Alten bekommen und es wäre mein Job, dich zu beobachten und seine Interessen zu schützen, weil du versuchen würdest, ihn um das Geld zu betrü-
gen und so weiter.«
»Das hat ja nicht lang gedauert, was? Wir haben ihn gerade erst unter die Erde gebracht.«
»Tja.«
»Überrascht mich nicht.«
»Er ist auf Sauftour, mach dich also darauf gefasst, dass er dich vielleicht selbst anruft, um dich mit dem Kram voll zu quatschen.«
»Ich kenne das alles schon, Harry Rex. Er ist nie selbst schuld an seinen Problemen, irgend jemand hat es immer auf ihn abgesehen und will ihm was Böses. Typisches Suchtverhalten.«
»Er meint, das Haus ist eine Million wert, und sagt, es sei mein Job, das auch herauszuholen. Andernfalls würde er sich einen eigenen Anwalt nehmen und so weiter und so fort, bla bla bla … Na, mich hat’s nicht gekümmert. Er war wirklich schwer angeschlagen.«
»Er ist ein armes Schwein.«
»Das stimmt, aber in einer Woche ist er wieder nüchtern und klar im Kopf, und dann bekommt er von mir die Retourkutsche. Uns kann nichts passieren, wir sind auf der sicheren Seite.«
»Tut mir Leid, Harry Rex.«
»Das sind eben die Freuden der Juristerei, gehört auch zu meinem Job.«
Ray kochte sich eine Kanne starken italienischen Kaffee, so wie er ihn besonders mochte und wie er ihn in Clanton schmerzlich vermisst hatte.
Nach der ersten Tasse kam sein Gehirn langsam auf Touren.
Der Ärger mit Forrest würde seinen Lauf nehmen. Doch im Grunde genommen war Forrest harmlos, trotz seiner zahlreichen persönlichen Probleme. Harry Rex würde die Teilung des Vermögens vornehmen, und jeder würde gleich viel bekommen. In einem Jahr würde Forrest einen Scheck über so viel Geld erhalten, wie er noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
Die Vorstellung, dass ein Reinigungsdienst in Maple Run Tabula rasa machte, beunruhigte Ray eine Welle. Er sah vor seinem geistigen Auge ein Dutzend Frauen, die wie Ameisen herumschwirrten’ glückselig über so viel Dreck. Was, wenn der Richter noch einen mysteriösen Schatz hinterlassen hatte und sie ihn fanden? Matratzen voller Bargeld? Schränke voller Scheine?
Nein, das war unmöglich. Ray hatte jeden Quadratzentimeter des Hauses abgesucht. Wenn man in einem Versteck drei Millionen Dollar findet, fängt man an, alles auf den Kopf zu stellen, schließlich könnte da oder dort ja noch mehr sein. Er hatte sich sogar durch die Spinnweben im Keller ge-kämpft. In diese Gruft würde sich keine Putzfrau jemals wagen.
Er goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein, ging wieder ins Schlafzimmer, setzte sich auf einen Stuhl und starrte auf die Stapel Scheine. Was nun?
Im Trubel der letzten Tage hatte er ausschließlich darüber nachgedacht, wie er das Geld an den Ort bekam, wo es jetzt lag. Nun musste er den nächsten Schritt planen, und er hatte noch keine rechte Vorstellung, wie der aussehen sollte.
Fest stand nur eines: Das Geld musste versteckt und geschützt werden.
16
Mitten auf dem Schreibtisch prangte ein großer Blumenstrauß mit einer Beileidskarte, die von allen vierzehn Studenten aus Rays Kartellrechtsseminar unterzeichnet worden war. Jeder hatte einen kurzen Satz dazu geschrieben, und Ray las alle. Neben den Blumen lag ein Stoß Karten von den Kollegen der Fakultät.
Es sprach sich schnell herum, dass er wieder da war, und den ganzen Vormittag über schauten immer wieder Kollegen bei ihm herein, um hallo zu sagen, ihn willkommen zu heißen und ihm ihr Beileid auszusprechen.
Die Fakultät war im Großen und Ganzen eine ziemlich verschworene
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