Der Ring der Kraft - Covenant 06
jegliches Sammeln von Erfahrungen, wie könnte sie da wissen, wohin sie ihre Streiche führen soll, wie stark sie ihre Kräfte aufbieten muß? Unverdientes Wissen beherrscht jenen, den es heimgesucht hat, und beide haben davon Schaden.«
Aber Covenant hatte darauf eine eigene Antwort zu geben. »Sie können uns nicht sagen, was sie wissen«, versicherte der Zweifler ruhig, sobald Pechnase verstummte. »Wir wären darüber viel zu entsetzt.« Er saß mit dem Rücken am Güldenblattbaum; die innerliche Schmelzmasse seiner Entschlossenheit ließ ihm keinen Frieden. »Das ist am schlimmsten. Sie wissen, was wir leiden werden müssen. Aber wenn sie's uns verraten würden, wie sollten wir dann den Mut finden, all dem Unglück entgegenzugehen? Manchmal ist Unwissenheit die einzige Art von Tapferkeit oder wenigstens Bereitwilligkeit, die einen Nutzen hat.«
Er sprach, als wäre er von seinen Äußerungen überzeugt. Doch die Härte seines Tons legte die Schlußfolgerung nahe, daß es in ihm keine Unwissenheit mehr gab, die ihm die Aussichten seines unerschütterlichen Vorhabens erleichtert hätte. Die Riesen schwiegen, da sie seiner Behauptung weder widersprechen konnten noch irgendwie darauf einzugehen wußten. Rings um die karge Sichel des Mondes schimmerten die Sterne in untröstlichem Bedauern. Die Nacht nahm zwischen den Hügeln einen Charakter gewisser Eindringlichkeit an. Unter dem behaglichen Glanz seiner Gesundheit und seines Heils trauerte Andelain um den Forsthüter.
Zu entsetzt? fragte sich Linden. Waren Covenants Pläne denn derartig schrecklich? Aber es war ihr nicht möglich, ihm diesbezügliche Fragen zu stellen. Nicht in Anwesenheit der Riesen. Sein Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, war für sie allzu offensichtlich. Und sie selbst war zu unruhig, um Konzentration zu finden. Sie war wie aufgeladen durch die vitale Kraft und reichhaltige Üppigkeit der Hügellandschaft; und die Nacht schien ihren Namen zu flüstern, sie zu drängen, sie solle sich ihre nervöse Erwartung mit einem Spaziergang austreiben. Covenants Tote ließen sich nirgends bemerken. Innerhalb der Reichweite von Lindens Sinnen lagen nur der sanfte Schlummer und die Schönheit dieser Region des Landes.
Eine sonderbare Vergnügtheit entstand in Linden; sie wäre am liebsten unter dem schmalen Mond drauflosgelaufen, hätte zu gern umhergetollt, wäre liebend gerne die Hänge hinaufgestürmt und an der Rückseite hinuntergepurzelt, hinauf und hinab, sie wollte in Andelains untadeliger Dunkelheit untertauchen. Vielleicht konnte es ihr, wenn sie allein durchs dunkle Andelain tanzte, als Gegenmittel wider jene andere Finsternis dienen, die das Sonnenübel in ihren Adern genährt hatte. Unvermittelt stand sie auf. »Ich komme bald wieder«, sagte sie, indem sie den Blicken ihrer Gefährten auswich. »Andelain ist einfach zu aufregend. Ich muß mehr davon sehen.«
Die Hügel schienen ihr zuzuraunen, und sie hörte darauf, lief mit aller lustvollen Schnelligkeit ihrer Beine von dem Güldenblattbaum aus in die südliche Richtung.
Hinter ihr nahm Pechnase seine Flöte zur Hand. Ihre ungeübten Töne, gleichzeitig durchdringend, zerrissen und süß, folgten Linden, während sie dahinrannte. Sie blieben bei ihr, geradeso wie die geisterhaften Glieder der Bäume, die geduckte Mitternacht der Sträucher, die von keinem Mondschein erreichte Düsternis und Stille der Schatten. Pechnase versuchte die Melodie zu spielen, die mit so überreich vollem Klang von Caer-Caveral auszugehen gepflegt hatte.
Für einen Moment gelang es ihm – oder gelang ihm fast –, und die Weise durchdrang Linden wie Verlust und Verzückung. Dann war es, als ließe sie sie zurück, als sie eine Hügelkuppe überquerte und den Hang hinablief, noch weiter hinein in die nahezu übersinnliche Nacht der andelainischen Hügel.
Der Forsthüter hatte im Zusammenhang mit ihr von grimmigen Schatten gesprochen; und sie dachte an ihren Vater und ihre Mutter. Unbeabsichtigt, ohne sich darüber im klaren zu sein, was sie taten, hatten ihre Eltern sie aufgezogen, um aus ihr eine Selbstmörderin oder Mörderin zu machen. Aber jetzt trotzte sie ihnen. Kommt nur! keuchte sie lautlos zu den Sternen hinauf. Zeigt euch nur! Zum Guten oder Schlechten, zu Heil oder Untergang war sie inzwischen stärker als ihre Eltern geworden. Die leidenschaftlichen Gemütsregungen, die in ihr emporbrodelten, konnten mit den strengen Begriffen ihres Erbes nicht länger benannt oder durch sie unterdrückt
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