Der Ring der Kraft - Covenant 06
werden. Linden verhöhnte ihre Erinnerungen, forderte sie regelrecht dazu heraus, ihr zu erscheinen. Doch sie kamen nicht.
Und weil sie ausblieben, lief Linden weiter, achtlos wie ein Kind – und war infolgedessen vollständig unvorbereitet auf die Pforte der Macht, die sich plötzlich vor ihr auftat, sie zu Boden warf, als wäre sie nicht stark oder real genug, um von der uralten Gewalt, die daraus hervortrat, überhaupt bemerkt zu werden. Eine Pforte, die einer Bresche in der vordergründigen Substanz der Nacht glich, schlagartig und gewaltsam wie eine Detonation klaffte, scheinbar so hoch wie der Himmel. Sie öffnete sich, und ein Mann trat heraus. Dann schloß sie sich hinter ihm.
Lindens Gesicht ruhte im Gras. Sie rang um Atem, versuchte den Kopf zu heben. Aber die bloße Machtfülle der Präsenz, die über sie aufragte, preßte sie an den Untergrund. Die bittere Entrüstung des Wesens schien wie die Trümmer eines Berges auf Linden zu stürzen. Jenseits seines Grimms war dieser Mensch so übervoll mit Verderben, so niedergeschmettert in der uralten, ungemilderten Vollkommenheit seiner Verzweiflung, daß sie für ihn geweint hätte, wäre sie dazu imstande gewesen. Doch sein fürchterlicher Zorn schüchterte sie viel zu sehr ein, wendete ihre Empfindsamkeit gegen sie selbst. Sie vermochte nicht einmal das Gesicht aus dem Grasboden zu erheben, um ihn anzuschauen. Sie erfühlte nachgerade transzendentale Größe und Macht. Einen Augenblick lang glaubte sie, er könne sie gar nicht beachten, sie wäre bei weitem zu winzig und bedeutungslos, als daß er sie zur Kenntnis nehmen könnte; sie meinte, er würde an ihr vorübergehen und sich dem widmen, was er im Sinn haben mochte. Doch fast sofort floh diese Hoffnung sie. Sein Blick fiel zwischen ihre Schulterblätter, als bohre er eine Speerspitze hinein.
Dann sprach er. Seine Stimme ähnelte in ihrer Trostlosigkeit dem Land unter einer Sonne der Dürre, in ihrer Verzerrtheit und Verlassenheit den Entartungen unter einer Sonne der Seuchen. Aber Wut verlieh ihr Kraft und Nachdruck. »Kennst du mich, Mörderin deiner Toten?« Nein , röchelte Linden lautlos. Nein. Ihre Finger zerwühlten die lehmige Erde, während sie ihre demütigende Position zu verändern versuchte. Er hatte nicht das Recht, ihr so etwas anzutun. Doch sein Blick spießte sie an den Erdboden, und sie vermochte sich nicht zu rühren. »Ich bin Kevin, Loriks Sohn«, antwortete er, als wäre ihr Widerstand belanglos. »Hoch-Lord des Großrates. Begründer der Sieben Kreise des Wissens. Und Vollzieher der Schändung des Landes mit eigener Hand. Ich bin Kevin Landschmeißer.« Daraufhin war Linden zu nichts anderem als einem Aufstöhnen imstande. Guter Gott. O du guter Gott! Kevin.
Sie wußte, wer er war; Kevin war der letzte Hoch-Lord des durch Berek ins Leben gerufenen Rates der Alt-Lords gewesen, der letzte direkte Erbe des Stabes des Gesetzes. Das Wunderbare und Hoheitliche seiner Herrschaft zu Schwelgenstein hatte dem Lande die Dienste der Bluthüter erworben, die Freundschaft mit den Riesen der Wasserkante gefestigt, die Hingabe des Rates an die Erdkraft vertieft, dem ganzen Lande Schönheit und Sinn geschenkt. Und trotz allem war er gescheitert. Vom Verächter getäuscht und in die Enge gedrängt, hatte er sich der Aufgabe, das Land zu verteidigen, nicht gewachsen gezeigt. Durch seine Fehler war der Gegenstand seiner Liebe und all seines Dienens dem Verhängnis anheimgefallen. Und weil er die Tragweite des Unheils begriffen hatte, war er in tiefste Verzweiflung geraten. Getrieben von Wahnwitz, hatte er sich auf das Ritual der Schändung eingelassen und geglaubt, Lord Foul auf diese Weise doch noch überwinden zu können – daß sich mit dem Preis einer jahrhundertelangen Verwüstung des Landes das Ende des Verächters erkaufen ließe. So hatten sie sich im Kiril Threndor getroffen, im Herzen des Donnerbergs, der wahnsinnige Lord und sein boshafter Widersacher. Gemeinsam hatten sie das grauenvolle Ritual in die Wege geleitet. Zuletzt jedoch war es Kevin gewesen, der ihm zum Opfer fiel, während Lord Foul ihn auslachte. Die Schändung hatte nicht die Macht besessen, die Welt vom Verächtertum zu befreien. Doch das war noch nicht die ganze Geschichte seines Elends. Irregeführt durch das Knäuel von Liebe und Haß, das in ihr stak, hatte der spätere Hoch-Lord Elena, Tochter Lenas und Covenants, den Glauben gehegt, die Verzweiflung des Landschmeißers wäre ein Quell unwiderstehlicher Macht; und
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