Der Ring des Sarazenen
einen ansehnlichen Zustand versetzt zu werden - nicht, nachdem sie nun wusste, wozu diese Zeremonie dienen sollte. Aber der kurze Blick in die Runde hatte ihr nicht nur viel über Masyaf verraten, sondern ihr vor allem eines gezeigt: Auch wenn Aisha und sie die einzigen lebenden Wesen in weitem Umkreis zu sein schienen - denn sie konnte weder Wächter noch einen der schwarz gekleideten Krieger hinter den Zinnen oder unten auf dem Hof erkennen -, so wäre der Versuch einer Flucht in diesem Moment und von diesem Ort aus doch vollkommen aussichtslos. Sie hob müde die Schultern und hoffte, dass Aisha diese Geste als Fügsamkeit in ihr Schicksal auslegte. In Wahrheit war sie jetzt mehr denn je entschlossen, von diesem unheimlichen Ort zu fliehen.
Vorerst jedoch führte sie Aisha über eine schmale, aus dem natürlich gewachsenen Felsen gemeißelte Treppe hinauf. Sie erreichten einen hellen, säulengeschmückten Kreuzgang und von dort aus einen massigen Turm. Jetzt stieß sie zum ersten Mal auch wieder auf Haruns Krieger. Zwei der Männer standen völlig reglos vor dem einzigen, niedrigen Tor des Turmes, trotz der mörderischen Hitze in ihre schwarzen Gewänder gehüllt und mit verschleierten Gesichtern. Selbst jetzt, wo ihr ihre Sinne keine bösen Streiche mehr spielten und sie nicht mehr halb wahnsinnig vor Angst und Durst war, kamen ihr die beiden Assassinen noch immer mehr wie Gespenster denn wie lebende Menschen vor.
Auf einen Wink Aishas hin öffnete eine der Wachen die Tür, um sich unverzüglich wieder auf ihren Posten zurückzuziehen. Der Mann sah nicht in ihre Richtung, als Aisha durch das Tor trat und Robin mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand aufforderte, ihr zu folgen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte sie. »Zu diesem Turm haben allein die Frauen des Scheichs und ihre Dienerinnen Zugang. Kein Mann kommt jemals hierher. Nicht einmal Sheik Sinan selbst.«
Robin war im ersten Moment irritiert. Dann aber begriff sie, dass Aisha die Blicke, mit denen sie die beiden Männer gemustert hatte, nicht verborgen geblieben waren. Sie hatte sie jedoch offensichtlich vollkommen falsch gedeutet. Gut. Ihr sollte es recht sein. Ohne zu antworten, trat sie hinter Aisha durch das Tor und folgte ihr eine schmale, gewendelte Treppe hinauf. Kühles Halbdunkel hüllte sie ein, als die Wächter hinter ihnen die Tür wieder schlossen.
Auch hier stammte das einzige Licht von schmalen, schräg nach oben durch die Wände getriebenen Schlitzen, durch die flirrende Sonnenstrahlen hereinfielen. Robin begriff, dass dieser Turm einzig nach Verteidigungsgesichtspunkten erbaut war und seine Architekten keinen besonderen Wert auf Komfort gelegt hatten. Die Treppe führte zu mindestens einem halben Dutzend Etagen hinauf, zu der jeweils eine einzelne Tür Zugang bot, die sie allesamt passierten. Nur ein einziges Mal ging eine dieser Türen in eine andere Richtung. Sie war nicht ganz geschlossen, sodass Robin einen flüchtigen Blick auf den Wehrgang der angrenzenden Mauer erhaschte, aber nicht erkennen konnte, was dahinter lag.
Es war sehr still. Der Turm hatte entweder keine anderen Bewohner oder seine Mauern waren so dick, dass sie jedes Geräusch verschluckten wie ein Schwamm ein paar Tropfen Feuchtigkeit.
Endlich erreichten sie ihr Ziel, das im obersten Stockwerk des Turmes liegen musste. Aisha zog einen großen, kunstvoll geschmiedeten Schlüssel unter ihrem Gewand hervor. Robin fuhr bei diesem Anblick ganz leicht zusammen, denn mehr noch als alles andere machte er ihr klar, dass sie wieder eine Gefangene war. Schließlich öffnete Aisha die Tür und bedeutete Robin mit einer übertriebenen Geste, an ihr vorbeizugehen.
Robin hatte ein kleines Zimmer erwartet, eine Zelle, allenfalls einen Raum, wie sie ihn in Omar Khalids Sklavenhaus bewohnt hatte, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Die gesamte Etage schien nur aus einem einzigen großen Zimmer zu bestehen, an dessen Decke mehrere duftige Vorhänge in lauschigen Bögen befestigt waren, mit denen man es vermutlich unterteilen konnte. Es war sehr hell hier drinnen. Auf der einen Seite, die zum Hof hin lag, gab es eine Reihe großer Fenster. Sie hatten keine Gitter, und das war zwanzig oder gar dreißig Meter über dem Boden auch gar nicht notwendig, da allein schon die Höhe der Fenster jeden Fluchtversuch ausschloss. Robin war dennoch erleichtert beim Anblick der unvergitterten Fenster. Dafür bedauerte sie es umso mehr, dass sich in der nach außen hin gelegenen Seite
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