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Der Ring

Der Ring

Titel: Der Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Melko
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Zusammenspiel der Kräfte niemals würden teilen können. So sehr ich mich auch bemühte, mein Gemälde blieb eine Schätzung, eine krude Näherung.
    Ich berührte den Steuerknüppel und ließ den Sled auf der X-Achse rotieren. Als unter uns die Erde auftauchte, tippte ich den Knüppel ein weiteres Mal an, diesmal in der entgegengesetzten Richtung. Ich wusste, wie viel Schub nötig war, um die Winkelbewegung augenblicklich abzustoppen.
    »Wow!«
    Unter uns hing eine blaue, von weißen Wirbeln bedeckte Scheibe. Statt von den Kontrollen aufzublicken, betrachtete ich die wunderschönen Wolkenformationen über dem Meer und den Landmassen durch die Augen meiner Podpartner. Strom malte die besten mentalen Bilder, er erwischte immer den richtigen Farbton und die richtige Schattierung und ließ uns alle daran teilhaben. Ganz anders als ich, die ich den anderen nicht zeigen konnte, wie ich die Welt sah. Manchmal fragte ich mich, ob mit mir alles in Ordnung war.
    Etwas weiter oben schwebte der Ring, ein silbernes Band, das sich – relativ gesehen – ziemlich eng um die Erde schlang. Sowohl von der Erdoberfläche als auch von den Raumstationen aus war er ständig zu sehen, bei Tag und bei Nacht, und blieb doch unerreichbar. Nur Mitglieder der Community konnten ihn betreten, und von denen gab es nur noch ein einziges: Malcolm Leto.
    Abseits von Stroms Bild nahm ich die Erde wahr, wie ich sie immer wahrnahm: als alles verschlingenden Schlund, als Gravitationssenke, als massive Einschränkung, die in jeder Berechnung an erster Stelle stand. Das größte Delta, immer das größte Delta.
    Aber heute war es anders. Hier im GEO, im geosynchronen Orbit, wurde die Erdanziehung von den Zentripetalkräften ausgeglichen. Um uns herum verringerten sich die Vektoren auf null, um langsam wieder anzuwachsen, während mein Geist den Raum über GEO hinaus konstruierte. Letztlich repräsentierte GEO ein künstliches Gleichgewicht – dem Anschein nach schwebten wir bewegungslos über der Erde, in Wirklichkeit befanden wir uns ständig im freien Fall. Wir fielen, fielen, fielen, ohne jemals zu landen.
    »Tango-Fünf-Fünf, hast du die Koordinaten? Alles klar, Apollo?«
    Aldos Stimme. Ich blendete ihn aus. Selbstverständlich hatte ich die Koordinaten, schon seit zehn Minuten. Drei Tage lang waren wir an Aldos Sled gekoppelt herumgeflogen, um den umliegenden Bereich von Spinnenköpfen zu säubern. Wenn eine Ankerspinne ihre paar Meter Diamantfaden gewoben hatte, blieb nur noch der Kopf – das letzte Stadium ihrer Entwicklung war erreicht, die kurze Lebensspanne vorüber. Leider war es Dr. Buchanan nicht gelungen, seine Arachniden so zu modifizieren, dass sie sich am Schluss freiwillig in die Atmosphäre stürzten und verbrannten, weshalb irgendwer die Drecksarbeit erledigen musste, ehe ihre Überreste zum Verkehrsrisiko wurden. Kein Wunder, dass sich niemand um den Job riss.
    Die genetisch modifizierten Spinnen verrichteten ihre Arbeit auf Höhe von GEO, ganz in der Nähe der Station. In Vielfachen von drei fraßen sie die eigenen Körper auf, um jeweils zehn Meter Kabel hervorzubringen, bis nur noch Köpfe vom Diamantfaden baumelten, wo wir sie bequem aufsammeln konnten. Im All wurde über jedes Werkzeug, jeden Ausrüstungsgegenstand und jeden abgestorbenen Körperteil akribisch Buch geführt, weil selbst kleinste Abfälle beschleunigenden Schiffen zum Verhängnis werden konnten.
    Meda schaltete das Mikro ein. »Hier Tango-Fünf-Fünf, Aldo.« Ihre Stimme klang genauso genervt, wie ich mich fühlte. Die Koordinaten, auf die wir jetzt im Verbund mit drei anderen Sleds zuglitten, bezeichneten unseren Zielpunkt auf dem Kabel. Uns war die zweite Position von unten zugedacht.
    »Wollte nur sichergehen, Apollo.«
    Festhalten, sandte ich.
    Meine Podpartner klammerten sich an die Haltegriffe. Ich kippte den Sled, ließ ihn um das Kabel herumgleiten und gab zweimal kurz Gegenschub, um die Rotations- und Orthogonalgeschwindigkeit zu verringern, bis unsere Nase direkt auf den Spinnenfaden zeigte.
    »Vorsicht, Apollo, sonst schneidest du noch das Kabel durch!«
    Ich achtete gar nicht auf den Funk, für mich war Aldos Stimme eine Amplitude ohne Vektor.
    Zentimeter vor dem Kabel kamen wir zum Stillstand. Nach drei Tagen als Anhängsel von Aldo hatte ich die Dynamik des jetzt abgekoppelten Sleds binnen Minuten verinnerlicht.
    Angeberin, sandte Meda.
    Quatsch. Das ist nun mal mein Job.
    Wir hatten alle unsere Talente. Wir waren fünf und zugleich eins – ein

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