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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Locken, einem Babygesicht und zwei nutzlosen Flügelstummeln sein?«
    Charles Wallace starrte die große Gestalt an. »Ja, das fiele uns leichter.«
    Meg zog ihren Umhang fester um die Schultern – für den Fall, daß der Cherubim Feuer in ihre Richtung spuckte.
    »Es setzt mich immer wieder in Erstaunen«, sprach der Cherubim in ihre Gedanken, »daß die meisten Erdenbürger Engel malen, die wie rosige Ferkel aussehen.«
    Calvin war so verwirrt, daß sein Lachen unnatürlich klang. »Aber Cherub- im , das ist doch die Mehrzahl?«
    »Ich bin eine Mehrzahl«, erwiderte das feuerspuckende Wesen gemessen. »Genaugenommen bin ich eine Mehrzahl. Der kleine Junge hielt mich sogar für ein ganzes Drachenrudel, stimmt’s? Jedenfalls bin ich gewiß kein vereinzelter Cherub. Ich bin ein vereinzelter Cherubim.«
    »Und was machst du hier?« wollte Charles Wallace wissen.
    »Man hat mich abkommandiert.«
    »Abkommandiert?«
    »In eure Klasse. Ich weiß allerdings nicht, wie ich es verdient habe, mit unreifen Erdenwürmern in eine Klasse gehen zu müssen. Als hätte ich nicht auch so schon genug Plackerei. Schlimm genug, in meinem Alter überhaupt noch auf die Schulbank geschickt zu werden.«
    »Wie alt bist du denn?« fragte Meg und breitete ihren Umhang wie einen schützenden Schild aus.
    »Für Cherubim tut das Alter nichts zur Sache. Das Alter an sich existiert nur für zeitgebundene Geschöpfe. Nach Cherubim-Begriffen bin ich fast noch ein Kind; mehr braucht ihr nicht zu wissen. Außerdem ist es höchst unschicklich, jemand nach seinem Alter zu fragen.« Zwei Flügel klappten zu und wieder auf. Das alles hatte eher bekümmert als vorwurfsvoll geklungen.
    Charles Wallace wandte sich an den Hageren. »Sie sind also mein Lehrmeister – und auch seiner?«
    »So ist es.«
    Charles Wallace blickte zu dem seltsam dunklen Gesicht auf, das streng und freundlich zugleich war. »Das ist zu schön, um wahr zu sein. Ich fürchte, ich träume bloß. Und am liebsten würde ich weiterträumen und nie wieder aufwachen.«
    »Was ist wahr, was ist ein Traum?« Der Lehrmeister streckte die Hand aus und strich Charles Wallace sanft über die Schwellung unter dem Auge. »Du bist wach.«
    »Oder, falls du doch schläfst«, sagte Meg, »haben wir alle denselben Traum. Meinst du nicht auch, Calvin?«
    »Ich glaube auch, daß wir wach sind. Denn wenn ich schon von einem Cherubim träumen würde, sähe der bestimmt nicht so aus, wie dieses – dieser … «
    Mehrere sehr blaue, sehr langwimprige Augen richteten sich direkt auf Calvin. »Proginoskes, wie der Lehrmeister bereits sagte. Und laß dir ja nicht einfallen, mich Cheru oder Bimmy zu nennen.«
    »Es wäre einfacher«, gab Charles Wallace zu bedenken.
    Aber das Wesen blieb standhaft. »Proginoskes.«
    Der dunkle Lehrmeister stieß ein tiefes, fröhliches Kullern aus, das immer lauter und herzhafter wurde und schließlich als befreiendes Lachen endete. »Nun gut denn, meine Kinder. Seid ihr bereit? Wollen wir mit dem Unterricht beginnen? Ich sage: Unterricht, weil es in eurer Sprache kein besseres Wort für das gibt, was uns erwartet.«
    Charles Wallace, der in dem gelben Regenmantel, den er über den Pyjama gezogen hatte, besonders klein und zierlich wirkte, blickte zu seinem baumlangen Lehrmeister auf und sagte: »Je rascher, um so besser. Die Zeit wird knapp.«
    »He, warten Sie einen Augenblick!« warf Calvin ein. »Was haben Sie mit Charles vor? Sie und der – der Cherubim können ihn doch nicht einfach mitnehmen, ohne seine Eltern zu fragen!«
    »Wer sagt, daß ich das beabsichtige?« Der Lehrmeister wippte leicht mit den Fußsohlen – und schon saß er auf dem größeren der beiden Felsen, als sei der ein bequemer Stuhl, stützte behaglich die Hände auf die Knie und rückte die Falten seiner Robe zurecht, die im Mondlicht mit dem Stein zu verschmelzen schien. »Ich komme nicht bloß zu Charles Wallace. Ihr, alle drei, seid berufen.«
    Das überraschte Meg. »Alle drei? Aber … «
    »Ihr könnt mich Blajeny nennen«, sagte der Lehrmeister.
    »Herr Blajeny?« fragte Charles Wallace. »Doktor Blajeny? Professor Blajeny?«
    »Blajeny genügt. Ein Name, das reicht. Seid ihr bereit?«
    Meg konnte es noch nicht fassen. »Calvin und ich ebenfalls?«
    »Ja.«
    »Aber … « Wenn Meg an einer Sache Zweifel hegte, konnte sie recht widerspenstig werden. »Calvin braucht keinen Unterricht. Er ist der Beste seiner Klasse, er ist der beste Sportler, er ist überhaupt der beste und hat überall

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