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Der Riss im Raum

Der Riss im Raum

Titel: Der Riss im Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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und ernähren.«
    Blajeny wischte den Einwand zur Seite. »Sie werden Lehrmeister. Das ist eine hohe Berufung, und du darfst dich nicht darüber beklagen, daß sie dir verwehrt bleibt. Dich erwarten andere Aufgaben.«
    Louise ließ sich mit einem letzten Gruß auf die Mauer zurückgleiten und verschwand schlängelnd zwischen den Steinen.
    »Vielleicht ist das alles doch nur ein Traum!« rätselte Calvin.
    »Was sind Träume? Was ist die Wirklichkeit?« fragte der Lehrmeister einmal mehr. »Ich sage euch jetzt Adieu.«
    Charles Wallace wollte sich noch nicht von ihm trennen. »Wir werden doch nicht morgen aufwachen und erkennen müssen, daß alles bloß Einbildung war?«
    »Wenn sich morgen früh nur einer von uns an diese Nacht erinnert«, sagte Meg, »dann war es ein Traum. Wenn wir uns aber alle erinnern, dann war es Wirklichkeit.«
    »Wartet auf morgen und seht, was der Tag euch bringt«, empfahl Blajeny. »Gute Nacht, Kinder.«
    Sie erkundigten sich nicht danach, wo er die Nacht verbringen würde – obwohl Meg das gern gewußt hätte —, denn sie ahnten, daß man Blajeny solche aufdringlichen Fragen nicht stellen durfte. Sie ließen ihn zurück, und er blieb stehen und blickte ihnen nach, die Falten seines Gewandes wie aus Granit gemeißelt, die Augen in seinem dunklen Gesicht hell wie schmelzendes Glas, das sich im Mondlicht bricht.
    Sie gingen durch den Garten zum Haus und betraten es, wie üblich, durch den Hintereingang neben der Küche. Die Tür zum Labor stand offen, und drinnen brannte Licht. Frau Murry saß über das Mikroskop gebeugt, und Dr. Colubra lehnte bequem im alten roten Ledersofa und las. Das Labor war ein langer, schmaler Raum, dessen Boden mit großen Steinplatten belegt war. Hier hatte man ursprünglich, vor langer Zeit, als es noch keine Kühlschränke gab, Milch, Butter und andere verderbliche Güter eingelagert, und es war nicht einfach, das Zimmer im Winter zu heizen. Die lange Werkbank mit dem steinernen Spülstein an einem Ende war ein idealer Arbeitsplatz für Frau Murry. Hier fand ihre gesamte Ausrüstung Platz. In einer Ecke des Raumes standen das Ledersofa, ein Lehnstuhl und eine Leselampe, die der klinischen Helle über dem Labortisch die Schärfe nahm. Aber Meg konnte sich nicht erinnern, Mutter jemals entspannt in diesem Winkel angetroffen zu haben; sie saß unweigerlich auf einem der hohen Laborhocker.
    Frau Murry blickte von ihrem Elektronenmikroskop auf, durch das sie die geheimnisvollsten Bewegungsabläufe verfolgen konnte. »Charles! Warum bist du nicht im Bett?«
    »Weil ich wach wurde«, erklärte Charles Wallace unumwunden. »Ich wußte, daß Meg und Calvin draußen waren, also leistete ich ihnen Gesellschaft.«
    Frau Murry bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, dann nickte sie Calvin einen freundlichen Gruß zu.
    »Stört es dich, wenn wir noch rasch eine Tasse Kakao trinken?« fragte Charles Wallace.
    »Es ist schon sehr spät, Charles, und morgen mußt du zur Schule.«
    »Ich schlafe hinterher bestimmt besser ein.«
    Frau Murry wollte widersprechen, aber da klappte Dr. Colubra das Buch zu und sagte: »Warum denn nicht? Ausnahmsweise. Charles kann ja morgen nachschlafen, wenn er heimkommt. Ich hätte auch nichts gegen eine Tasse Kakao einzuwenden. Wartet, wir machen das gleich hier; ich kümmere mich darum, dann kann eure Mutter ungestört weiterarbeiten.«
    »Ich hole die Milch und die Tassen«, sagte Meg.
    In Dr. Louises Gegenwart konnten sie Mutter nicht unvoreingenommen berichten, was sie soeben erlebt hatten. Die Kinder hatten zwar Dr. Louise ins Herz geschlossen, als Ärztin genoß sie ihr vollstes Vertrauen; aber sie waren nicht ganz sicher, ob Dr. Colubra auch Verständnis für das Außergewöhnliche aufbringen konnte; das wiederum war der große Vorzug ihrer Eltern.
    Im übrigen hatte Dr. Louise manches mit Mutter und Vater gemeinsam: Auch sie hatte eine gut bezahlte und mit hohem Ansehen verbundene Tätigkeit aufgegeben, um hier auf dem Dorf zu leben. (»Zu viele meiner Kollegen vergessen, daß sie sich der Heilkunst verschrieben haben, um sie auch auszuüben. Was nützte denn meine lange und teure Ausbildung, wenn sie den Menschen nicht unmittelbar zugute kommt?«) Auch sie hatte den Verlockungen der Erfolgswelt den Rücken gekehrt. Meg wußte, daß ihre Eltern – obwohl sie von höchsten Stellen regelmäßig als Berater herangezogen wurden – viele berufliche Chancen geopfert hatten, als sie aufs Land zogen, um sich hier ganz ihrer Forschung zu

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