Der Riss im Raum
Murry, Frau Doktor! Gute Nacht!«
Als er gegangen war, mahnte Frau Murry: »Charles! Die Zwillinge sind seit einer Stunde im Bett. Höchste Zeit auch für dich, Meg. In ein paar Minuten komme ich nachsehen, ob du schläfst, Charles.«
Noch hatten sie das Labor kaum verlassen, beugte sich ihre Mutter schon wieder über das Mikro-Elektronenmikroskop …
Meg kleidete sich langsam aus. Sie stand am Fenster ihrer Dachkammer und fragte sich, ob Dr. Louise wirklich nur leichthin geplaudert hatte; wie man eben bei einer Tasse Kakao miteinander schwätzt. Oder bildete sie sich nach den seltsamen Erlebnissen dieses Abends nur ein, daß hinter jedem Wort, und sei es scheinbar noch so belanglos, ein geheimer Sinn verborgen lag?
Sie knipste das Licht aus und trat ans Fenster. Ihr Blick schweifte über den Gemüsegarten, zu den Obstbäumen … Weiter reichte er nicht. Die Bäume trugen noch zu viel Laub und gaben die Sicht auf die obere Wiese nicht frei.
Wartete wirklich dort draußen bei den Felsen ein Cherubim auf sie, eingerollt, zu einer Kugel aus Drachenfedern vermummt, die vielen Augen fest geschlossen?
Gab es ihn wirklich?
Was war wirklich, was war Traum?
Proginoskes
M eg erwachte, ehe es Tag wurde, so plötzlich, als habe man sie aus dem Schlaf gerissen, und war sofort hellwach.
Sie lauschte: Im Haus war es still.
Meg knipste die Bettlampe an und schaute auf die Uhr.
Sie hatte den Wecker wie üblich auf sechs gestellt; jetzt war es fünf. Sie konnte es sich also noch eine ganze Stunde lang unter der warmen Decke bequem machen und behaglich weiterdösen …
Da erinnerte sie sich.
»Es war nur ein Traum!« versuchte sie sich einzureden, obwohl sie wußte, daß man Träume anders erinnert. Aber es mußte ein Traum gewesen sein; was sonst?
Wie konnte sie das herausfinden, ohne Charles Wallace zu wecken und ihn zu fragen? Indem sie sich anzog, zu den Felsen auf der oberen Wiese ging und sich vergewisserte, daß dort kein Cherubim auf sie wartete. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß sie doch nicht bloß geträumt hatte, galt ja ihr Versprechen, den Cherubim vor dem Frühstück aufzusuchen.
Abgesehen von dem einen schrecklichen Augenblick, als Herr Jenkins kreischend und heulend über den Himmel zog, wäre es sogar ein überaus schöner Traum gewesen. Andererseits hätte sie viel für einen ganz und gar wirklichen Blajeny gegeben, der sämtliche Entscheidungen in die Hand nahm. Der ganz und gar unwirkliche (sonst doch immer bis zum Überdruß berechenbare) Herr Jenkins war allerdings schwerer zu begreifen als der Lehrmeister – schwerer sogar als ein Cherubim, der wie ein Drachenrudel aussah.
Rasch zog sie ihren Rock und eine frische Bluse an, schlich – leise und vorsichtig, wie am Vorabend – auf Zehenspitzen nach unten, huschte durch die Küche in den Vorraum, schlüpfte in die dickste Jacke und setzte sich eine knallbunte Baskenmütze auf (eine der wenigen Strickarbeiten, die Mutter ohne größere Pannen zu Ende gebracht hatte).
Diesmal blies kein Wind, diesmal knallten keine Türen. Meg knipste die Taschenlampe an, um den Weg zu finden. Es war ein stiller, kalter Morgen, kurz vor der Dämmerung. Das Gras war spinnwebenweiß von Tautropfen und erstem Reif. Fahler Dunst tanzte behutsam über den Rasen. Die Berge versteckten sich bis ins Tal hinter einem Nebelvorhang, aber der Himmel war klar und voller Sterne.
Meg lief durch den Garten und blickte sich dabei ängstlich um: Keine Spur von Herrn Jenkins, wie denn auch. Auch Louise zeigte sich nicht auf der Steinmauer, obwohl Meg ausdrücklich nach der großen Schlange Ausschau hielt.
Meg durchquerte den Obstgarten, kletterte wieder über die Mauer – noch immer ließ Louise sich nicht blicken; für Schlangenspaziergänge war es bestimmt zu früh und zu kalt – und lief auf die obere Wiese, an den beiden Felsen vorbei, zur großen Steinplatte, dem Ausguck zu den Sternen.
Niemand war da; nur kleine Nebelfetzen ringelten sich in der leichten Brise.
Also doch. Sie hatte alles nur geträumt.
Da nahmen die Nebel plötzlich Gestalt an, wurden zu wippenden Flügeln, zu Augen, die sich öffneten und schlössen, zu winzigen Flammenzungen, zu Rauchwölkchen …
»Es gibt dich!« rief Meg. »Du bist keine Traumgestalt.«
Proginoskes reckte genüßlich einen großen Flügel himmelwärts und faltete ihn sorgsam wieder an den Leib. »Menschen träumen äußerst selten von Cherubim. Gut, daß du pünktlich kommst. Unpünktlichkeit ist unsereinem nämlich ein
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