Der Riss im Raum
blockierst noch immer.«
»Nicht absichtlich … «
»Das merke ich. Laß dir eine Rechenaufgabe einfallen. Denk an irgend etwas, das stärker ist als deine Nicht-Liebe und mir die Möglichkeit gibt, in deinem tiefsten Inneren nach dem Guten in Jenkins zu stöbern. Wie war’s mit etwas Mathematik zur Ablenkung? Denke aber auch an Calvin. Ihn liebst du doch? Gut. Dann denke an Calvin, Meg! Denke … an seine Schuhe.«
»Wieso? Was ist mit ihnen?«
»Frage nicht. Du sollst nur an sie denken. Was für Schuhe trägt er?«
»Keine Ahnung. Halbschuhe, nehme ich an. Woher soll ich das wissen? Ich glaube, er hat überhaupt nur ein Paar Schuhe; und Sandalen.«
»Wie sehen seine Schuhe aus?«
»Darauf habe ich nie geachtet. Ich interessiere mich kaum für Mode.«
»Konzentriere dich auf die Mathematik, damit ich leichter in dir nach Calvins Schuhen Ausschau halten kann.«
Ziemlich neue Schuhe, halbhoch, zum Schnüren, kräftig gearbeitet. Über roten Socken, die in der Farbe nicht dazu paßten. Wie konnte sich Frau O’Keefe für ihre Familie so teure Schuhe leisten? Meg sah sie ganz deutlich vor sich; das Bild hatte sie wohl Proginoskes zu verdanken. Es stimmte, sie kümmerte sich kaum um modische Details; trotzdem war alles da, was sie einmal gesehen hatte, war gespeichert, öffnete sich dem Kythen des Cherubims. Auf einmal ahnte sie, daß ihr eigenes, bescheidenes Kythen dem Tasten eines Kindes glich, das mit einem Finger eine Melodie auf dem Klavier nachspielen will – kein Vergleich mit der vollen Harmonie eines Orchesters, mit der unendlichen Sprache der Cherubim.
Jetzt hörte sie tief in ihrem Inneren, wie ein Echo von damals, Calvins Stimme!
Wieder einmal war sie – ungerechtfertigt, wie ihr schien – zu Herrn Jenkins in dessen Büro gerufen und zur Rechenschaft gezogen worden. Calvins Reaktion auf ihren Bericht war ruhig, besänftigend, aufreizend sachlich: »Als ich in die siebente Klasse kam, also von der Dorfschule in die Oberstufe, kaufte mir meine Mutter bei einem Trödler ein Paar Schuhe. Sie waren nicht teuer, kosteten aber mehr, als sie sich eigentlich leisten konnte. Es waren Damenschuhe, schwarze Schnürstiefel, wie alte Weiber sie tragen, und mindestens um drei Nummern zu klein. Als ich sie sah, mußte ich heulen, und daraufhin begann auch Mutter zu heulen, und das machte Vater so wütend, daß er mich verdrosch. Am nächsten Morgen holte ich die Säge, säbelte die Hacken ab, schnitt die Schuhspitzen weg, damit ich für die Zehen Platz bekam, zwängte irgendwie die Füße hinein und ging zur Schule. Die anderen in der Klasse kannten mich gut genug, um in meiner Gegenwart keine spöttische Bemerkung zu riskieren, aber ich konnte mir denken, was sie hinter meinem Rücken tuschelten. Ein paar Tage darauf ließ mich Herr Jenkins in sein Büro ruf en und sagte, ihm wäre aufgefallen, daß ich aus meinen Schuhen herausgewachsen sei. Zufällig hätte er ein überzähliges Paar, das mir vielleicht passen würde. Er hatte alles mögliche unternommen, damit sie alt und gebraucht aussahen, denn ich sollte doch nicht das Gefühl haben, er hätte sie eigens für mich gekauft. – Mittlerweile verdiene ich in den Ferien genug, um mir selbst zu kaufen, was ich brauche; aber ich werde nie vergessen, daß ich die ersten ordentlichen Schuhe, die ich je bekam, ihm verdanke. Ich weiß, man hält Jenkins für ein Ekel, und wahrscheinlich ist er sogar eines. Auch ich bin wiederholt mit ihm zusammengekracht; aber im großen und ganzen kommen wir ganz gut miteinander aus – vielleicht, weil meine Eltern ihm keine Minderwertigkeitsgefühle geben, und weil er mir helfen konnte, wo sie versagt hatten
»Es wäre einfacher, wenn ich Jenkins nach wie vor nicht ausstehen könnte«, klagte Meg.
»Was wäre dann einfacher?« Das war jetzt wieder Proginoskes, nicht mehr Calvins Stimme.
»Ihn zu benennen.«
»Meinst du? Kennst du ihn denn jetzt nicht besser als zuvor?«
»Nur aus zweiter Hand. Ich selbst habe nie etwas Nettes an ihm bemerkt.«
»Und wie, meinst du, schätzt Herr Jenkins dich ein?«
»Er hat mich nie anders als widerborstig erlebt«, gab Meg zu. Beinahe mußte sie lachen, weil ihr plötzlich einfiel, was Jenkins ihr einmal an den Kopf geworfen hatte: »Margaret, ein Kind von solch unseliger Kontumaz, wie du sie an den Tag legst, ist mir in meiner ganzen beruflichen Laufbahn noch nicht vor die Augen gekommen.« Und sie war nach Hause gegangen und hatte erst aus dem Lexikon erfahren, daß Kontumaz
Weitere Kostenlose Bücher