Der Riss im Raum
glänzte silbrig und purpurfarben in der Abendsonne. Unheimlich behende schlängelte sie sich heran.
»Charles! Paß auf!« rief Meg.
Er rührte sich nicht von der Stelle. »Sie tut uns nichts.«
»Charles! Lauf! Sie will dich angreifen!«
Aber Louise machte knapp vor Charles Wallace halt und richtete sich spiralenförmig auf, bis sie nur noch auf den letzten Zentimetern ihres Schwanzendes balancierte. Unruhig pendelte ihr Kopf.
»Jemand ist in der Nähe«, sagte Charles Wallace. »Jemand, den Louise kennt.«
»Die – die Drachen?«
»Wer weiß. Sehen kann ich sie allerdings nicht. Warte, ich will versuchen, mich einzufühlen.« Er schloß die Augen – nicht, um Louise oder Meg von sich fernzuhalten, sondern um sich besser auf seinen inneren Blick konzentrieren zu können. »Es sind die Drachen – glaube ich«, flüsterte er. »Und es kommt ein Mann. Nein, kein gewöhnlicher Mann. Er ist – sehr groß – und … « Plötzlich riß er die Augen wieder auf, wies zu einer Baumgruppe, die bereits in tiefem Schatten lag, und rief: »Schau! Dort!«
Meg meinte, eine riesige dunkle Gestalt wahrzunehmen, die sich ihnen näherte; aber ehe sie Genaueres erkennen konnte, preschte mit wildem Gebell Fortinbras durch den Obstgarten. So bellte er keine Fremden an, so begrüßte er sonst nur Megs Eltern, wenn sie lange fortgewesen waren. Jetzt drückte er sich, den schwarzen Schwanz kerzengerade ausgestreckt, eng an die Wand, reckte die Schnauze, schnüffelte erregt, setzte über die Mauer und rannte auf der oberen Wiese geradewegs auf die beiden Felsen zu.
Charles Wallace folgte ihm, keuchend vor Anstrengung. »Er will dorthin, wo meine Drachen gewesen sind! Komm, Meg! Vielleicht hat er ihre Losung entdeckt!«
Meg eilte ihrem Bruder und dem Hund nach. »Woran willst du denn Drachenkot erkennen? Er sieht wahrscheinlich nicht anders aus als Kuhfladen – nur eben größer.«
Charles Wallace stützte sich auf Hände und Knie. »Da! Schau!«
Am Fuße des Felsens lagen vereinzelte Federn im Moos. Sie sahen aber nicht wie Vogelfedern aus, sondern waren außerordentlich weich und geschmeidig und strahlten einen seltsamen Glanz aus. Zwischen den Federn fanden sich kleine, blattförmige Schuppen, die wie Silber oder Gold schimmerten. Meg mußte zugeben, daß Drachenschuppen durchaus so beschaffen sein konnten.
»Siehst du, Meg?« rief Charles triumphierend. »Sie waren hier! Meine Drachen waren hier!«
Ein Riß im Raum
A ls Meg und Charles Wallace zum Haus zurückkehrten, schweigend, jeder in neue und verwirrende Gedanken vertieft, wehte der Wind bereits den Abend über das Land.
Die Zwillinge erwarteten sie schon; sie wollten, daß Charles Wallace mit ihnen noch einige Torbälle übte, ehe es endgültig dunkel wurde.
»Dazu ist es schon zu spät«, behauptete er steif.
»Ein paar Minuten bleiben uns leicht. Stell dich nicht so an, Charles! Im Denken bist du vielleicht ein Genie, aber in Fußball bist du eine Niete. Mit sechs Jahren war ich längst ein As im Tor und ließ nicht, wie du, jeden Ball ins Netz.«
Dennys klopfte Charles kameradschaftlich auf die Schulter; das saß eher wie ein Hieb. »Er wird von Tag zu Tag besser, Sandy! So, aber jetzt komm, die Zeit wird knapp.«
Charles Wallace schüttelte den Kopf. Er erwähnte nicht, daß er sich krank fühlte; er stellte bloß mit Bestimmtheit fest: »Heute wird nicht geübt.«
Meg überließ es den Zwillingen, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und ging in die Küche, wo sie ihre Mutter traf, die eben aus dem Labor kam. In Gedanken noch ganz bei ihrer Arbeit, musterte Frau Murry lustlos den Inhalt des Kühlschranks.
Meg entschied sich für den direkten Angriff. »Mutter«, sagte sie, »Charles Wallace glaubt, mit seinen Mitochondrien oder Farandolae könnte etwas nicht stimmen.«
Frau Murry ließ die Tür des Kühlschranks zufallen. »Manchmal denkt Charles Wallace zuviel.«
»Was sagt denn Dr. Colubra dazu?«
»Daß die Möglichkeit nicht auszuschließen ist. Sie meint, die angebliche Grippeepidemie, die in diesem Herbst bereits zu einer Reihe von Todesfällen geführt hat, könnte in Wahrheit eine Mitochondritis sein.«
»Und Charles Wallace ist auch davon angesteckt?«
»Keine Ahnung, Meg. Gerade das versuche ich ja herauszufinden. Und ich habe dir schon einmal gesagt: Sobald ich mehr weiß, wirst du es erfahren. Aber bis dahin laß mich, bitte, in Ruhe.«
Meg wich einen Schritt zurück und nahm am Tisch Platz. Mutter sprach sonst nie in dieser kühlen,
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