Der Riss
wiederkommen.“ Sie fuhr mit Klauenfingern durch die Luft. „Und sie zu Tode erschrecken. Was allerdings reine Zeitverschwendung wäre.“
„Wie meinst du das?“
„Sämtliche kleinen Kinder zu retten, die ins Darklingland wandern, während ganz Bixby dabei ist, sich in ein einziges großes Büffet zu verwandeln.“ Sie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, spürte die Spannung, die seinen Körper ergriff, und seufzte. „Nur ein Scherz, Rex. Du kennst mich: stets zu Diensten, wenn Leute gerettet werden müssen.“
Er entspannte sich und holte tief Luft. „Mich hast du jedenfalls gerettet.“
Sie lächelte. Das Wunderbare an Rex war, dass er nie die Nacht vergaß, in der sie überall in Bixby herumgewandert war, um ihn zu finden, damals, als sie noch Kinder waren. Nach all den Jahren, all den Fehlern, die sie gemacht hatten, war er immer noch der Achtjährige, der stets dankbar war, weil sie ihm gezeigt hatte, dass die blaue Zeit real war und kein wiederkehrender Albtraum.
Weshalb war er heute Nacht nur so nervös? Trotz ihrer neuen, verbesserten Fähigkeiten konnte Melissa manchmal immer noch nicht alle Einzelheiten schmecken. Nicht ohne Körperkontakt jedenfalls, und Rex hatte heute ziemlich empfindlich auf Berührungen reagiert.
„Vielleicht hat Cassie niemandem etwas erzählt“, sagte er.
„Vielleicht denkt sie wirklich, es war alles nur ein Traum.“
„Ich weiß nicht. Sie schmeckte ziemlich … clever.“ Melissa machte eine Pause, weil sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich clever meinte. Das Kind war zäh, und Melissa hatte in ihr eine schlaue Ader entdeckt. Cassie Flinders war gestern Nacht ziemlich still gewesen, typisch für ein Kind unter Schock, aber sie hatte immer genau zugehört, wenn die Midnighter in ihrer Gegenwart etwas besprachen, und alles gespeichert. Je eher Melissa ihre Erinnerung umfrisierte, desto besser.
„Schieb bloß nicht zu heftig, Cowgirl.“
Rex’ Schuldgefühle überschwemmten sie, eine Mischung aus saurer Milch und Batteriesäure, und sie stöhnte. „Das liegt alles hinter uns, Rex. Keine Bekloppten mehr. Ich werde mich dadrin leicht wie eine Feder bewegen. Vertrau mir einfach, okay?“
„Okay.“ Er sah auf seine Uhr. „Und was machen wir jetzt mit den acht Minuten?“
„Himmel, Loverboy, wenn du fragen musst … “
Er lächelte und beugte sich zu ihr hinüber. Aber seine Bewegungen waren unsicher.
Was verbirgst du, Loverboy? , fragte sie sich.
Als sie sich küssten, spürte sie, wie Rex’ nervöse Energie auf seinen Lippen surrte. Sie fuhr mit ihrer Zunge sacht darüber und verwandelte seinen Angstgeschmack in Verlangen, während sie ihn näher zog. Melissas eigene Erregung – in der Erwartung der Midnight, einer Gelegenheit, ihr neues Können einzusetzen, um Cassies erstarrtes Gehirn zu manipulieren –
wurde stärker. Sie überschwemmte Rex’ Anspannung, vermischte sich mit seiner Erregung, wie zwei scharfe Aromen, die in ihrem Mund kollidierten.
Er griff nach ihren Schultern, mit behandschuhten Händen zum Schutz vor versehentlichen Berührungen mit Stahl, und zog sie an sich. Sie schob eine Hand in seine Jacke, worauf ihr allmählich schwindelig wurde. Sie schmeckte, wie Rex’ fortschreitende Transformation gärte, und wunderte sich über das süßliche, geladene Aroma, wie Rock-Pops unter der Zunge, prickelnd, während sie ihre Kehle hinuntertrudelten.
Normalerweise sorgten Melissas Techniken zahlloser Gedankenlesergenerationen dafür, dass sie nicht die Kontrolle verlor, wenn sie sich berührten. Aber heute Nacht drohte Rex’
neu erlangtes Selbstvertrauen, seine Stärke, die täglich größer wurde, sie zu überwältigen. Sie gewann kurze Einblicke in das, was in der vergangenen Nacht geschehen war, sah den Tanz des Darklings mit seinen Augen, als er in Rex den anderen Räuber erkannte. Beinahe mit ihm gesprochen hatte.
Und dann brach der wahre Grund für seine Schuld- und Angstgefühle durch: Wie nah er daran gewesen war, seine Darklingseite überlaufen zu lassen. Sie fragte sich, was von Cassie Flinders übrig geblieben wäre, wenn das passiert wäre …
Ihre altertümlichen Erinnerungen warnten Melissa, Rex könnte zu einem Wesen werden, das kein Gedankenleser jemals geküsst hatte. Da waren Schatten in ihm, alt und entsetzlich.
Aber sie ignorierte die Warnungen – das hier war schließlich Rex. Er war der einzige Grund, aus dem sie so lange überlebt hatte. All die Jahre war ihr Verstand ungeleitet
Weitere Kostenlose Bücher