Der Riss
gewesen.
Endlich konnte sie das tun, was sie immer gewollt hatte: ihn berühren. Melissa spürte, wie sie alles fahrenließ, was Madeleine ihr gegeben hatte, alle Meisterschaft und Kontrolle, und in die Finsternis in seinen tiefsten Tiefen hineinsank.
Wie die alten Geister draußen in der Wüste hatten die Wesen dort drinnen keine Worte, nur Bilder, die sie kaum erfassen konnte – Zeichen der Lehre, einen Knochenhaufen, den Geruch von Feuer … den großartigen Rausch beim Erlegen der Beute.
Es gab einen kurzen, stechenden Schmerz, und dann entzog er sich, sein Körper zitterte.
Melissa saß einen Moment reglos da, sah, wie seine Augen im Mondlicht violett aufleuchteten, wie das Echo des eben in ihm Gespürten allmählich verhallte. Sie schmeckte Salz und fragte sich kurz, was für eine Sorte Gedankenlärm das war, dann fiel ihr auf, dass der Geschmack echt war – Blut in ihrem Mund.
„Mist“, sagte sie und hob eine Hand an ihre Lippen. „Ich hab mir auf die Lippe gebissen. Wie peinlich.“
„Das warst du nicht.“ Er wandte sich ab. „Tut mir leid …
wenn das verrückt war.“
„Ist schon gut, Rex.“ Melissa tastete ihre verletzte Lippe vorsichtig ab. „Ich hatte auch ziemlich unheimliches Zeug in mir, als wir angefangen haben, uns zu berühren. Weißt du noch?“
Er wandte sich ihr wieder zu und zog einen Handschuh aus.
Vorsichtig berührte er ihren Mund.
Ein Schauder fuhr in dem Moment durch den Wagen, gleichzeitig brachen sämtliche zufälligen Geräusche ab. Blaues Licht legte sich über die Welt, und vor der plötzlich verstummten geistigen Landschaft klärten sich die Visionen, die sie Rex’ Erinnerungen entnommen hatte.
Sie sah ein Blatt Papier, das mit krakeligen Symbolen bedeckt war, und wusste, dass es diese unlesbaren Zeichen gewesen waren, die ihn heute Nacht so nervös gemacht hatte.
Melissa blinzelte im Licht des dunklen Mondes. „Was hat das zu bedeuten?“
„Ich habe das heute Morgen gefunden.“ Rex’ Stimme hörte sich rau an.
Er griff in seine Tasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander, worauf dieselben Symbole zum Vorschein kamen, die sie in ihm gelesen hatte.
„Das hat dich also so erschreckt?“ Sie ließ sich in ihren Sitz zurücksinken und seufzte. „Altertümliche Seherweisheit über das Ende der Welt?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht besonders alt. Sieh her.“
Sie sah genauer hin. Die Symbole waren auf liniertes Papier geschrieben, mit Dreierlochung und einem ausgefransten Rand, weil es aus einem Spiralblock gerissen worden war.
„Versteh ich nicht. Sind das deine Notizen?“
„Ich hab das nicht geschrieben. Ich habe es heute Morgen auf meinem Küchentisch gefunden.“
„Moment mal.“ Melissas Gedanken wirbelten. „Das sind aber doch Zeichen aus der Lehre, Rex.“
Er nickte. „Das stimmt, Cowgirl. Ein etwas seltsamer Dialekt, aber lesbar.“
„Und das ist einfach so auf deinem Küchentisch aufgetaucht? Außer dir weiß aber doch niemand, wie man mit den Zeichen der Lehre schreibt. Und … ach Scheiße.“ Melissa schob den Nagel ihres Ringfingers zwischen die Vorderzähne und biss wütend darauf herum. Ihre Zähne rutschten mit einem Knacken vom Fingernagel ab. „Diese Dominos, die die Grayfoots benutzt haben, um mit den Darklingen zu kommunizieren – da waren Lehresymbole drauf.“
„Das stimmt. Mit den gleichen minimalen Abweichungen wie hier. Es ist sogar unterschrieben.“ Er deutete auf die rechte untere Ecke, wo eine Mobilfunknummer neben drei krakeligen Symbolen in kreisförmiger Anordnung stand. „Äh-nügi.“
„Was zum Teufel ist Äh-nü-gi ?“
„Jedes Lehrezeichen steht normalerweise für ein Wort, wenn man sie aber im Kreis anordnet, dann werden Laute daraus, wie bei einem Alphabet. So buchstabiert man Namen und schreibt über Dinge, die es vor ein paar tausend Jahren noch nicht gab.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Und damals hatten die Leute kein Äh-nü-gi ? Ich frag jetzt noch mal: Was soll das?“
Er lachte leise. „Was sie damals noch nicht hatten, waren bestimmte Laute. Schließlich war das die Sprache der Steinzeit. ,Äh-nü-gi‘ ist so dicht wie möglich an Angie dran.“
„Angie.“ Melissa gefror bei dem Namen das Blut in den Adern. Angie, Nachname unbekannt, war eine der Agentinnen der Grayfoots. Sie hatte die Nachrichten der Darklinge übersetzt, war in der Nacht, in der Anathea starb, in der Wüste gewesen, und sie war es gewesen – das wusste Melissa
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