Der Rosenmord
bringen.«
Sie war schon an der Türe, ehe er widersprechen konnte, und dann schien es zu spät, noch etwas zu sagen. Er sah ihr lange nach, wie sie über den Hof ging und auf die Hauptstraße abbog. Erst als er sie nicht mehr sehen konnte, machte er sich wieder an die Arbeit.
Es war am Spätnachmittag, etwa eine Stunde vor der Vesper, als Bruder Eluric, der Hüter des Marienaltars, sich fast verstohlen von seiner Arbeit im Skriptorium entfernte, den großen Hof überquerte, durch den kleinen eingezäunten Garten zu den Gemächern des Abtes ging und um Audienz bat. Er stand sichtlich unter Spannung und gab sich so einsilbig, daß Bruder Vitalis, der Kaplan und Sekretär von Abt Radulfus, mißtrauisch die Augenbrauen hob und einen Moment zögerte, bevor er ihn anmeldete. Doch Radulfus hatte angeordnet, daß jeder Sohn des Hauses, der Sorgen hatte oder Rat brauchte, jederzeit Zugang zu ihm haben müsse. Vitalis zuckte die Achseln und ging zum Abt hinein, um die Erlaubnis zu erbitten, die sofort gegeben wurde.
Das helle Sonnenlicht war im holzvertäfelten Sprechzimmer zu einem sanften Schimmer gedämpft. Eluric blieb direkt hinter der Türe stehen, die in seinem Rücken leise wieder geschlossen wurde. Radulfus saß am offenen Fenster an seinem Schreibtisch. Er hatte einen Federkiel in der Hand und war in eine Schreibarbeit vertieft. Sein Adlergesicht war von der Seite gesehen dunkel und ruhig, das Sonnenlicht im Fenster umrahmte die hohe Stirn und das lange schmale Gesicht. Eluric näherte sich ihm voller Ehrfurcht, dankbar für des Abtes Fassung und Gelassenheit, die so sehr außerhalb seiner eigenen Möglichkeiten lag.
Radulfus schloß seinen wohlformulierten Satz mit einem Punkt ab und legte den Federkiel in die Bronzeschale auf dem Tisch. »Ja, mein Sohn? Ich bin bereit, Euch anzuhören.« Er blickte auf. »Sagt es nur, wenn Ihr einen Wunsch habt.«
»Ehrwürdiger Vater«, begann Eluric mit enger, trockener Kehle und leiser Stimme, die quer durch den Raum kaum zu verstehen war. »Ich habe große Sorgen. Ich weiß kaum, wie ich beginnen soll, noch inwieweit ich als Schuldiger und Sünder zu gelten habe. Gott weiß, ich habe gerungen und immer wieder um Kraft gebeten, mich vom Bösen fernzuhalten. Ich komme als Bittsteller und als Büßer, aber gesündigt habe ich noch nicht, und mit Eurer Gnade und Eurem Verständnis mag mir die Sünde erspart bleiben.«
Radulfus faßte ihn genau ins Auge und sah die Spannung im Körper des jungen Mannes, der bebte wie eine gespannte Bogensehne. Ein leidenschaftlicher Junge, gequält von Gewissensbissen wegen Verfehlungen, die mitunter nur eingebildet oder aber so läßlich waren, daß es schon wieder eine sündhafte Übertreibung gewesen wäre, sie als echtes Vergehen zu betrachten.
»Mein Kind«, sagte der Abt mitfühlend, »nach allem, was ich über dich weiß, neigst du manchmal dazu, dir wegen kleiner Dinge, die ein kluger Mann nicht für erwähnenswert halten würde, große Vorwürfe zu machen. Hüte dich auch vor dem Gegenteil des Stolzes! Zurückhaltung in allen Dingen ist nicht der auffälligste Weg zur Vollkommenheit, aber der sicherste und bescheidenste. Und jetzt heraus damit, laß uns sehen, was wir tun können, um deinen Sorgen ein Ende zu bereiten.« Und rasch fügte er hinzu: »Und komm näher heran! Ich will dich sehen und deutlich hören, was du zu sagen hast.«
Nervös und so heftig die Hände ringend, daß die Knöchel weiß anliefen, schlich Eluric näher. Er leckte sich die trockenen Lippen. »Ehrwürdiger Vater, in acht Tagen wird St. Winifreds Grablegung stattfinden und als Pachtzins für das Haus in der Vorstadt muß die Rose übergeben werden … an Frau Perle, die der Abtei das Haus unter dieser Bedingung überließ …«
»Ja«, erwiderte Radulfus. »Ich weiß. Und weiter?«
»Vater, ich will Euch bitten, mich von dieser Pflicht zu entbinden. In Erfüllung des Vertrages brachte ich ihr dreimal die Rose, aber jedes Jahr fällt es mir schwerer. Schickt mich nicht noch einmal zu ihr! Nehmt diese Bürde von mir, bevor ich schwanke! Es ist mehr, als ich ertragen kann.« Jetzt zitterte er heftig und konnte kaum weitersprechen. Seine Worte kamen in schmerzlichen Eruptionen wie Blutstöße aus einer großen Wunde. »Vater, ihr Anblick und der Klang ihrer Stimme sind eine Folter für mich. Ich leide Todesqualen, wenn ich in ihrer Nähe bin. Ich habe gebeten, ich habe Nachtwachen gehalten, ich habe Gott und die Heiligen angefleht, mich nicht mit der Sünde
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