Der Rosenmord
»Als ich hinausging, kam er mir nicht böse oder boshaft oder schuldbewußt vor. Nur verwirrt! Als hätte er sich an einem Ort wiedergefunden, an dem er nie sein wollte, in einem unbekannten Haus, ohne zu wissen, wie er hergekommen war.«
»In gewisser Weise«, warf Cadfael ein, »entspricht das sogar der Wahrheit. Er war wie ein Mann, der den ersten unsicheren Schritt in einen Sumpf getan hat und sich nicht mehr zurückziehen kann. Jeder weitere Schritt ließ ihn tiefer einsinken. Von der versuchten Zerstörung des Rosenstrauchs wurde er bis zum Überfall auf Euch getrieben. Kein Wunder, daß ihm der Ort, an dem er sich schließlich wiederfand, so fremd erschien. Nicht einmal das Gesicht, das er dort im Spiegel sah, war ihm mehr bekannt – es war ein schrecklicher Fremder.«
Sie waren alle fort: Hugh Beringar zur Burg zurück, um seinen Gefangenen zu verhören, solange der Schreck der Entlarvung anhielt und kalt geplanter Selbstschutz noch nicht seine Gedanken und sein Gewissen versiegelte; Schwester Magdalena und Bruder Cadfael zur Abtei. Magdalena wollte mit Radulfus speisen, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß sie in Judiths Haus vorläufig nicht gebraucht würde. Cadfael mußte sich wieder seinen Pflichten in der Enklave widmen, nachdem nun alles gesagt und getan war, was es zu sagen und zu tun gab. Nun mußten Stille und Muße wieder Raum gewinnen, wo Lärm und Eile nicht mehr von Hilfe waren.
Alle waren fort, selbst der arme Bertred lag auf dem Friedhof von St. Chad im Grab. Das Haus war leerer denn je, halb entvölkert durch Tod und Schuld, und da sie nun für zwei kinderlose Witwen sorgen mußte, wog die Last auf Judiths Schultern schwerer als zuvor. Sie hatte versprochen, ihrer Tante alles zu erzählen, was diese wissen mußte, und sie hielt ihr Wort. Die ersten Klagelieder waren vorbei, nun kam die Stille der Erschöpfung. Selbst die Spinnerinnen waren heute nicht im Haus. Die Webstühle standen still, keine Stimmen hallten durch die Räume.
Judith schloß sich in ihrer Kammer ein und dachte über die Zerstörung nach. Es war eine große Leere, der Boden war gefegt, um Platz für etwas Neues zu schaffen. Nun war niemand mehr da, auf den sie sich in ihrem Tuchhandel stützen konnte. Wieder lag das ganze Geschäft in ihren Händen, und sie mußte die Verantwortung tragen. Sie brauchte einen neuen Vorarbeiter, einen Vertrauenswürdigen Mann, und einen Schreiber für die Rechnungen, der Miles ersetzen konnte. Sie hatte sich nie vor ihren Pflichten gedrückt, aber sie hatte auch nie die Märtyrerin gespielt. Das würde sie auch jetzt nicht tun.
Sie hatte fast vergessen, was für ein Tag heute war. Keine Rose würde übergeben werden, das war sicher. Der Strauch war bis auf den Boden verbrannt und würde nie wieder die kleinen, süß duftenden weißen Rosen tragen, die sie an ihre Ehejahre erinnerten. Es spielte keine Rolle mehr. Sie war frei und ungefährdet und konnte selbst bestimmen, was sie verschenken und was sie behalten wollte. Sie konnte zu Abt Radulfus gehen, unter Zeugen einen neuen Vertrag aufsetzen lassen, um Haus und Grund ohne Bedingung an die Abtei zu übergeben. All die Gier und die Berechnung, die um sie geherrscht hatten, waren jetzt vorbei, und jetzt wollte sie auch selbst einen Schlußstrich ziehen. Was von den Rosen blieb, war ein schwacher, bittersüßer Duft, eine Erinnerung an die wenigen kurzen Jahre des Glücks. Eine Rose in jedem Jahr als Erinnerung und Unterpfand dafür. Nun würde es keine Rosen mehr geben, nie wieder.
Am Nachmittag steckte Branwen schüchtern den Kopf herein, um einen Besucher anzumelden. Gleichgültig ließ Judith ihn hereinbitten.
Niall trat, in einer Hand eine Rose, an der anderen ein Kind, zögernd ein und blieb einen Augenblick in der Türe stehen, um sich in dem Zimmer zurechtzufinden, das er noch nie betreten hatte. Vom offenen Fenster fiel ein breiter Streifen Sonnenlicht zwischen Judith und ihren Besuchern auf den Boden. Erstaunt über sein Kommen, stand sie auf und hielt mit leicht geöffneten Lippen und großen Augen inne, plötzlich leicht im Herzen, als wäre eine frische Brise aus dem Garten durch einen dunklen, düsteren Raum geweht und hätte ihn mit Sommerdüften und der Heiligkeit eines Festtages erfüllt. Ungerufen und ohne Voranmeldung war der einzige Mensch gekommen, der nie etwas erbeten oder erwartet hatte, der keine Forderungen gestellt und keinen Vorteil gesucht hatte, der bar jeden Geizes und jeder Eitelkeit war. Ihm
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