Der Rosenmord
vielleicht gezögert. Cadfael kannte kein Zögern.
»Die Rosen bedeuteten für ihn«, erklärte er schlicht, »die Erinnerung an Euch. Es war keine rein sachliche Entscheidung, die uns ihn von seiner Pflicht, die Rose zu überbringen, entbinden ließ. Er selbst hatte gebeten, von dieser Aufgabe erlöst zu werden, die ihm eine Folter geworden war, und seine Bitte wurde erfüllt. Er konnte es nicht mehr ertragen, Euch nahe zu sein und dennoch so fern, als sei er auf dem Mond. Er wollte Euch nicht mehr sehen, nicht mehr in Eurer Reichweite sein, ohne Euch lieben zu dürfen. Doch als er befreit war, konnte er anscheinend auch die Freiheit nicht ertragen. In gewisser Weise wollte er von Euch Abschied nehmen. Er wäre schon darüber hinweggekommen«, ergänzte Cadfael resigniert und traurig, »wenn er weitergelebt hätte. Aber es wäre eine lange, schlimme Krankheit geworden.«
Immer noch schwankte ihr Blick nicht, und ihr Gesicht blieb unverändert. Nur das Blut wich aus ihren Wangen, und ihre Haut war bleich und durchscheinend wie Eis. »Mein Gott!« flüsterte sie. »Das habe ich nicht gewußt! Es wurde nie ein Wort gesagt, kein einziger Blick … und dabei bin ich soviel älter als er und keine Schönheit! Es war, als hätte man einen Chorknaben aus der Schule zu mir geschickt. Niemals ein falscher Gedanke, wie wäre das auch möglich gewesen?«
»Er war fast von der Wiege an im Kloster«, erklärte Cadfael sanft. »Seit er seine Mutter verließ, hatte er nie wieder mit einer Frau zu tun. Er hatte keine Verteidigung gegen ein sanftes Gesicht, eine weiche Stimme und freundliche Gesten aufzubieten. Hättet Ihr Euch durch seine Augen gesehen, Ihr wärt geblendet worden.«
Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Ich habe gespürt, daß er nicht glücklich war. Mehr aber nicht. Wie viele in dieser Welt können schon von sich sagen, glücklich zu sein?« Dann sah sie Cadfael in die Augen und fragte: »Wer weiß davon? Muß darüber gesprochen werden?«
»Niemand außer dem Vater Abt, dem Beichtvater des Jungen, Bruder Anselm und mir selbst. Und jetzt wißt Ihr es.
Nein, es wird niemand sonst erfahren. Und keiner von denen, die es wissen, wird Euch je einen Vorwurf machen. Wie könnten wir?«
»Aber ich kann es«, erwiderte Judith.
»Nicht, wenn Ihr gerecht mit Euch seid. Ihr dürft nicht mehr auf Euch nehmen, als Euch von Rechts wegen zusteht. Es war Elurics Fehler.«
Plötzlich erhob sich eine Männerstimme im Geschäft, jung und erregt, und Niall antwortete hastig und beruhigend. Miles platzte durch die offene Tür herein, das Sonnenlicht zeichnete seinen Umriß scharf nach, glänzte auf seinem zerzausten Haar und verwandelte Hellbraun in Flachsblond. Er war errötet und atemlos, aber er seufzte erleichtert auf, als er Judith gefaßt und tränenlos in ruhiger Gesellschaft sitzen sah.
»Guter Gott, was ist hier nur los? In der Vorstadt gehen Gerüchte von Mord und Missetaten um! Bruder, ist es wahr?
Meine Cousine … ich wußte, daß sie heute morgen herkommen wollte. Gott sei Dank, meine Liebe, bist du wohlauf und in guter Gesellschaft. Ist dir auch nichts geschehen?
Sobald ich die Gerüchte hörte, bin ich losgerannt, um dich heimzuholen.«
Wie ein Wind im März hatte sein überschwenglicher Auftritt den tiefen Ernst, der sich über den Raum gelegt hatte, fortgeweht. Seine Lebendigkeit brachte etwas Farbe in Judiths erstarrtes Gesicht. Sie stand auf, um ihn zu begrüßen, ließ sich von ihm umarmen und auf die kalte Wange küssen.
»Mir ist nichts geschehen, mach dir keine Sorgen um mich.
Bruder Cadfael war so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten. Er und der Vater Abt waren hier, bevor ich kam, und ich war nie in Gefahr.«
»Aber es hat wirklich einen Todesfall gegeben?« Immer noch die Arme beschützend um sie gelegt, blickte er ängstlich zwischen ihr und Cadfael hin und her. »Oder ist das nur Gerede? Man sagt, ein Bruder der Abtei sei von diesem Haus aus mit bedecktem Gesicht zur Enklave getragen worden …«
»Das ist leider wahr«, erwiderte Cadfael und erhob sich müde. »Bruder Eluric, der Küster des Marienaltars, wurde heute morgen hier erstochen aufgefunden.«
»Was, hier in diesem Haus?« fragte Miles ungläubig. Was hatte ein Bruder der Abtei auch im Haus eines Handwerkers zu suchen?
»Draußen im Garten unter dem Rosenstrauch«, erwiderte Cadfael knapp. »Und der Strauch ist zerhackt und beschädigt.
Eure Cousine kann Euch alles erzählen. Besser, Ihr hört die Wahrheit, als die Gerüchte,
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