Der Rosenmord
Glas waren ihre Augen, die den reglosen Körper im Gras liegen sahen. Judith betrachtete das bleiche, ovale Gesicht, die bleichen gefalteten Hände auf der Brust der Kutte, den zerhackten Stamm des Rosenstrauches, die umgeknickten, hängenden Zweige. Sie erkannte weder den toten Jungen, noch verstand sie, was hier geschehen war. Aber allzu gut begriff sie alles, was dieses Haus betraf, diese Wände, die einmal die ihren gewesen waren. Alles, was hier geschah, bedrückte sie, als hätte sie eine schreckliche Folge von Ereignissen in Gang gesetzt, die sie nun aus eigener Kraft nicht mehr aufhalten konnte. Die Schuld legte sich wie ein Mantel um sie.
Sie gab keinen Ton von sich, sie zuckte nicht zusammen, und sie gab auch Niall nicht nach, der flehte: »Kommt doch, kommt herein und setzt Euch und überlaßt alles dem Ehrwürdigen Abt. Kommt doch!« Er wollte, eher schmeichelnd als stützend, einen Arm um sie legen und sie ins Haus ziehen.
Sie aber stand ruhig und aufrecht und ohne sich zu rühren. Sie legte die Hände auf seine Schultern und wehrte den drängenden Mann resolut ab.
»Nein, laßt. Dies geht mich auch etwas an. Ich weiß es.«
Inzwischen hatten sich alle besorgt um sie gesammelt. Der Abt sah die Notwendigkeit ein. »Wir können nicht leugnen, daß hier etwas geschehen ist, das Euch sehr beunruhigen dürfte.
Ich will nichts vor Euch verbergen. Ihr schenktet uns dieses Haus, und Ihr habt es verdient, die Wahrheit zu hören.
Trotzdem solltet Ihr euch hüten, mehr zu empfinden, als es sich für eine vornehme Dame geziemt, die Mitgefühl für ein zu früh beendetes junges Leben hat. Nichts von alledem ist Euretwegen geschehen,, und nichts, was jetzt getan werden muß, fällt unter Eure Pflichten. Geht nur hinein. Wir wollen Euch alles erzählen, was von Belang ist. Ich verspreche es Euch.«
Sie zögerte, sie betrachtete immer noch den toten Jungen.
»Ehrwürdiger Vater, ich will Euch nichts schwerer machen, was schon schwer genug sein muß«, erwiderte sie bedächtig. »Aber laßt mich ihn sehen. Das bin ich ihm schuldig.«
Radulfus sah ihr in die Augen und trat zur Seite. Niall nahm fast verstohlen den Arm von ihr. Er fürchtete, sie könnte seine Berührung gerade in dem Augenblick bemerken, in dem sie aufgehoben wurde. Sie ging mit festen, gleichmäßigen Schritten über das Gras und betrachtete Bruder Eluric. Im Tod wirkte er trotz seiner endgültigen Ruhe noch jünger und verletzlicher als im Leben. Judith langte über ihn hinweg, zum niederhängenden verwundeten Strauch, pflückte eine halbgeöffnete Knospe und schob sie vorsichtig in seine gefalteten Hände.
»Für alle, die du mir gebracht hast.« Sie hob den Kopf und wandte sich an die anderen. »Ja, er ist es. Ich wußte, daß er es war.«
»Bruder Eluric«, erklärte der Abt.
»Ich kannte nicht einmal seinen Namen. Ist das nicht eigenartig?« Sie sah mit gerunzelter Stirn von einem zum anderen. »Ich habe nie gefragt, und er hat ihn mir von sich aus nicht genannt. Nur wenige Worte sprachen wir, und nun ist es zu spät für alle Worte.« Schließlich, als die Erstarrung wich und sich das Feuer des Schmerzes in ihren Augen ausbreitete, konzentrierte sie sich auf Cadfael, den sie hier am besten kannte. »Wie konnte dies nur geschehen?« fragte sie.
»Kommt herein«, erwiderte Cadfael, »dann werden wir es Euch erklären.«
5. Kapitel
Der Abt und Bruder Anselm kehrten zur Abtei zurück und schickten Männer mit einer Bahre, um Bruder Eluric ins Kloster zu tragen. Ein Bote sollte Hughs jungen Vertreter auf der Burg davon unterrichten, daß ein Mord geschehen war. Sehr bald schon würde die Neuigkeit, daß ein Bruder auf geheimnisvolle Weise den Tod gefunden hatte, in der Vorstadt die Runde machen, und alle möglichen Gerüchte würden wie launische Winde durch die Stadt wehen. Eine behutsam gekürzte Version von Elurics tragischem Ende würde der Abt sicherlich bekanntgeben, um den wildesten Mutmaßungen zu begegnen.
Lügen würde er nicht, aber er würde umsichtig alles unterschlagen, was für ihn selbst, die beiden Brüder und den Toten ewig ein Geheimnis bleiben mußte. Cadfael konnte sich schon denken, wie es sich anhören würde: Nach reiflicher Überlegung habe man beschlossen, die Pacht in Form einer Rose lieber direkt vom Mieter überbringen zu lassen, statt durch den Küster des Marienaltars. Deshalb sei Bruder Eluric von dieser Aufgabe entbunden worden. Daraufhin sei er heimlich in den Garten gegangen, was vielleicht eine
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