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Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Titel: Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Einsturzgefahr«, sagen sie. Mein Betteln macht sie nachgiebig. Ich darf passieren.
    Es ist schwer, sich zu orientieren in dieser Trümmerlandschaft. Die Straßen sind als solche nicht mehr zu erkennen, die Häuserblocks gibt es nicht mehr. Ich irre durch diese Steinwüste, umgehe aufgerissene Straßenbahnschienen, die verbogen in die Höhe ragen. Ich sehe Menschen, die wie ich auf der Suche nachAngehörigen sind, einen alten Mann, der verzweifelt mit bloßen Händen in den Trümmern eines Hauses scharrt, und einen kleinen Jungen neben ihm, der ständig ruft »Mama, Mama!« Ich denke an meine kleine Schwester Maria, und das Herz krampft sich mir zusammen. Ob sie lebt? Ich kann es mir nicht vorstellen in dieser grauenvollen Umgebung. Wieso lebe ich eigentlich noch, denke ich. Die Brüder sind tot, Maria, Vati und Mutti sicherlich auch. Ich lehne mich gegen eine rußgeschwärzte Mauer und kann nicht mehr zu weinen aufhören. Schließlich raffe ich mich auf, stolpere weiter und sehe mich nach vielen Umwegen vor dem Friedrichstädter Krankenhaus, halte Ausschau nach jemand, den ich fragen kann, ob das Hohenthalhaus noch steht. Ich bin ganz nahe dran und möchte doch lieber vorher wissen, was mich erwartet. Aber niemand ist in der Nähe.
    Ein paar Minuten später stehe ich vor dem ausgebrannten Pfarrhaus. Ruinen ringsherum um den ganzen Hohenthalplatz. Ich rufe »Hallo! Hallo!« in der Hoffnung, daß jemand mich hört – aber weit und breit ist keine Menschenseele, Totenstille über der apokalyptischen Szenerie. Hier und dort züngeln kleine Flammen aus dem Hausgerippe hoch. Ich gehe in unseren Garten und finde in der Laube allerhand Haushaltgerät aufgestapelt. Aber wo sind die Hausbewohner? Verstört, ratlos gehe ich suchend hin und her, über den Platz, in die Schäferstraße, wieder zurück – überall nichts als geschwärzte Ruinen, glimmende Trümmer, aufsteigende Rauchwölkchen. Ich weiß nicht, wie lange ich so umherwandere ohne zu wissen, was ich tun soll.
    Der Friedhof liegt still hinter dem Haus. Ein paar Bombentrichter, ein paar aufgewühlte Grabstellen, aber der Weg vom Pfarrhaus zur Seitentür der Kirche, die in die Sakristei führt, ist unbeschädigt. Und während ich mich auf diesem Weg Richtung Kirche bewege, tut sich die Tür der Kirche auf und heraus kommt schleppenden Schrittes – Mutti. Das Haar hängt ihr wirr ums Gesicht, das Gesicht ist kalkweiß mit einem Stich ins Gelbgrünliche. Die Augenlider decken rotverschwollen die jetzt glanzlosen, früher funkelnden braunen Augen. Ich eile auf sie zu und kann sie gerade noch auffangen. Schlaff und zu Tode erschöpft liegt sie in meinen Armen und stammelt: »Ulla – Ulla, daß du da bist! Maria ist in Cossebaude, sie ist während des Feuersturms, als ich zu löschen versuchte, weggelaufen mit Nachbarn. Und auch Vati ist wohlauf.«
     
    Berlin Herta Klöntsch *1915
    Dann war der große Angriff auf Dresden. Mein Goldfasan teilte mir erschüttert mit, daß Frau und Sohn in Ordnung seien, seiner Tochter jedoch sei ein brennender Balken auf das Gesicht gefallen, was sie vollkommen entstellte. Und nun geschah etwas ganz Unfaßbares. Dieser Mann, Herbert Rost hieß er, macht mir doch tatsächlich im selben Atemzug einen Heiratsantrag. Empört ließ ich ihn stehen und habe ihn auch bis Kriegsende nicht wiedergesehen. Ich brauchte lange, um darüber hinwegzukommen.
     
    KZ Theresienstadt Alisah Shek *1927
    An den Baracken wird Tag und Nacht gearbeitet. Sie stehen dunkel gestrichen, einsam und unheimlich ineinem Meer von Kot ohne Boden. Die Stimmung eines Gefangenenlagers. Das Ghetto ist verändert von dem Geiste der Außenseiter, den diese »Goim« mitbringen. Sie fragen erzürnt bei dreckiger Arbeit: Bin ich denn ein Sklave? und fassen es als persönliche Herausforderung und Beleidigung auf, wenn wir ihnen mit einem »ja« antworten. Wüßten sie, wie blutig und welchem Erleben dieses »ja« abgerungen ist... So sind sie Narren. Sie tun mir leid, wenn ihnen das geringste geschieht, ihre geistige Widerstandskraft ist immer nur gering – vielleicht gar keine.
     
    (KZ Dachau) Der Pater Johann Maria Lenz
    Es war mittags um ein Uhr, als wir die Todeszone betraten. Auf der Blockstraße von 21 lagen etwa 20 bis 30 nackte Leichen: die Todesernte seit 24 Stunden. Es sollte unser tägliches Schauspiel werden. Daneben mit schleichendem Schritt die lebenden Leichen, die sich aus dem Block gewagt. Sie schauen hier die furchtbare Wirklichkeit. Sie sehen das traurige Ende,

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