Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)
das ihrer noch harrte.
Ein schöner Vorfrühlingstag ist heute. – Der Stube 2 werde ich zugeteilt. Dort schwingt Gevatter Tod seinen grausigen Herrscherstab. Viele Kameraden scheinen noch gesund zu sein, keiner jedoch weiß, ob nicht das tödliche Typhusgift bereits in seinen Adern rollt. Eine drückende Stimmung, trotz der lachenden Sonne. Andere wiederum sitzen oder liegen teilnahmslos und abgestumpft in ihren Betthöhlen.
Langsam wandere ich durch alle vier Stuben der Todesbaracke. Sie alle wollte ich kennenlernen, die hier bewußt oder unbewußt ihr Ende erwarteten. Für siealle wollte ich Priester sein. Tieferschüttert und von all den Eindrücken erschöpft, legte ich mich abends ins harte Bett. Es tat wohl wie weicher Flaum, wie Schwarzbrot in der Hungersnot des Lagers. Gewaltsam schloß ich die Augen. Was ich heute gesehen, war zu grauenvoll gewesen. Auch jetzt wollen sie nicht weichen, die entsetzlichen Bilder und Stimmen des Todes. Die eigentliche Todeshöhle war der Nachtraum von Stube vier. Schon vermochte man zu ahnen, was hier alles zu erleben war. Die kommenden vierzehn Tage haben mich dann auch um zehn Jahre älter gemacht. Nur vierzehn Tage! Es waren die schwersten und größten Tage meines armen Lebens. Bald werden sie enden – weil die Knochenhände des Würgers Tod auch nach mir greifen. Wird es ihm gelingen?
KZ Dachau Nico Rost
Pater R. brachte mir heute die Bücherliste: Lebensbeschreibungen einiger Heiliger der katholischen Kirche. Ich habe mir fest vorgenommen, alle diese Bücher später zu lesen – alles, was ich auf diesem Gebiete entdecken werde und was Niveau hat. Man wird ja auch nicht so mir nichts, dir nichts heiliggesprochen (kürzlich las ich einiges über das Verfahren, das der offiziellen Heiligsprechung vorangeht und das manchmal Jahrhunderte dauert). Darum kann man auch annehmen, daß ein Heiliger zumeist jemand von mehr als durchschnittlichem Format war, oft wohl sogar ein Heros des Geistes.
Das Studium eines solchen Lebens kann nur Gewinn bringen, auch ohne daß ich deswegen katholisch zu sein brauche!
Warum weiß ich zum Beispiel so wenig über das Leben des Augustinus, wohl aber eine Menge Einzelheiten aus dem der Jeanne van Schaffelaar?
Nichts vom heiligen Canisius, wohl aber etwas von Elsje van Houweningen, der Dienstmagd Hugo Grotius’?
Abends
Heute abend viel an Brauwer denken müssen, der ja mit seinen Büchern über Johannes vom Kreuz (1543–91) und Theresia von Jesu (1515–82) zuerst mein Interesse für Heiligenbiographien geweckt hat. Auch dafür bin ich ihm dankbar.
KZ Buchenwald Maxime Cottet
(Das Folgende dieses Tagebuchs ist nach meiner Rückkehr aus dem Gedächtnis rekonstruiert, übernommen aus meinem Notizbuch.)
Ich bin in die Krankenstube eingeliefert worden, denn meine Wunde am Fuß ruft einen Abszeß unter dem Nagel des großen Zehs hervor: Ohne Rücksicht entfernt man den Nagel mit einer Zange. Aber wir sind die »Härte« gewohnt. Auf dem Revier bekommen wir die halbe Ration. Die Doktoren (deportiert wie wir) besuchen uns alle zwei Tage. Ich finde viele Kameraden wieder: Edgar, Vladimir und Douvres sind schwach, aber auch optimistisch. Léon Michel ist gesundheitlich nicht auf der Höhe, angegriffen von der Ruhr, die ihn buchstäblich belehrt, wohl deshalb, weil er viel schwarzen Tabak kaute und immer »Roll« genannt wurde. Jean Bertrand ist von einem Ödem aufgedunsen und ißt nicht mehr. Jeantet glaubt sich schwindsüchtig (viele sind es, sogar noch mehr), obwohler ein normales Aussehen hat; es ist sein Bewußtsein, daß er krank ist. Albert Bourgeois ebenfalls, aber er hat Ödeme, und sein Gesicht ist aufgedunsen. Wir reden miteinander vom Land, machen Zukunftspläne und reden über Gott und die Welt. Jeden Augenblick verderben die Jungs es: sie sterben ohne jeden Laut, sogar ohne genug Kraft, zu leiden. Ich komme nach Ende einer Woche heraus, schwächer und blasser als ich hereinkam. Ich verliere dort einen Teil meiner Ausdauer und meiner psychologischen Stabilität. Man öffnet mir wieder zwei Furunkel am Hals (mit dem Rasiermesser).
KZ Sachsenhausen Odd Nansen
Im Laufe der vorletzten vierundzwanzig Stunden sind im Lager verstorben:
150 Mann auf dem Revier,
46 auf dem Block,
14 Juden aus Liberose und
1542 auf Transporten.
Das ist die Ernte von vierundzwanzig Stunden. Gestern wurden einhundertzehn Mann aus der Tuberkulose-Abteilung ausgesucht und »um die Ecke« geführt, das heißt, zum Krematorium. Das Aussuchen
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