Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)
einem Transport aus Breslau vor der Roten Armee evakuiert wurde, erzählt uns, in ihrem Lager sei der Hunger so schrecklich auf die Spitze getrieben worden, daß sich Häftlinge auf die Leichen gestürzt hätten, um Fetzen davon zu verschlingen. Ein anderer berichtet, daß Häftlinge, die die Asche des Krematoriums zu entleeren hatten, darin nach Knochenmark suchten. Man hört noch schrecklichere Geschichten. Ich habe solche Dinge nicht gesehen, aber ich halte sie für möglich und danke meinem Gott, daß er mich nicht über meine Kraft geprüft hat.
Wir stürzen uns auf alles, was auch nur einigermaßen eßbar aussieht: auf Gras, Wurzeln, Rübenschalen oder Kartoffelschalen. Die ersten Löwenzahnblätter sind eine Delikatesse; man würde Steine essen, wenn sie nicht so hart wären!
Um diese Zeit habe ich mich an zwei Kameraden besonders eng angeschlossen. Außer mit Amaro verbindet mich eine feste Freundschaft mit Beckett, einem jungen Franzosen aus Doullens, einem Protestanten englischer Abstammung. Wir richten es so ein, daß wir immer nebeneinander arbeiten, wir sprechen uns Mut zu und helfen uns soweit wie möglich. Oft, wenn wir zur Baustelle gehen, versuche ich, mich an ein Wortder Schrift zu erinnern, und schlage ihnen eine Tageslosung vor. Man ist stärker, wenn man gemeinsam den Kampf gegen so viele entmutigende Dinge führt. Welcher Durst nach Gerechtigkeit, Friede und Liebe ist zeitweise unter den Jungens! Welcher Hunger nach Gott! Gewiß, man soll sich nicht irgendwelchen mystischen Heroismus vorstellen: Unser geistliches Leben flackert fast ebenso kümmerlich wie unser körperliches. Wir sind arme Kerle, verbraucht vom Elend. Alle unsere Fähigkeiten sind herabgesetzt, unser Gedächtnis hat sichtlich nachgelassen, und es kommt sogar vor, daß ich bei den Bitten des Vaterunsers stottere. Doch im Grunde ist der Glaube da, wenn auch die Mittel fehlen, ihm Ausdruck zu geben; ein nackter und einfacher Glaube, den zwar die Stunden der Angst und des Zweifels schwanken lassen, aber niemals auslöschen können; im Gegenteil, er erscheint gerade in den allerdunkelsten Augenblicken, wenn alles zusammenzubrechen droht. Es ist ein Geheimnis um den Glauben! Ich mache deutlich die Erfahrung, daß der Glaube mir geschenkt wird, er kommt nicht aus mir selbst. Mit Amaro gemeinsam richten wir, ehe wir einschlafen, unsere Bitten – und solche haben wir immer – an den barmherzigen Herrn, aber auch unseren Dank und unsere Fürbitte für die Unsrigen; denn es gibt immer Grund zum Danken und sichtbare Gebetserhörungen. Ich erbitte mir die Gnade, die Meinen und mein Vaterland wiedersehen zu können, aber ich habe gelernt zu sagen: »Dein Wille geschehe!« Ein- oder zweimal bin ich von den Hindernissen, die es bis dahin zu überwinden gilt, entmutigt und schicke mich darein, in Gefangenschaft zu sterben. Das Ziel ist erreicht, nun istFrankreich vom Naziunrat befreit, das Wichtigste ist errungen. Aber vor meinem Tod möchte ich an meine Verwandten schreiben können und sie um Verzeihung bitten für allen Kummer, den ich ihnen gemacht habe, und ihnen sagen, daß ich am Glauben festgehalten habe.
Muschaken bei Allenstein Viktor Seehöfer
Weiter ging es in Holzpantoffeln oder mit in Lumpen umwickelten Füßen am nächsten Tage nach Muschaken [Gefangenenmarsch]. An diesem Tage brachen viele zusammen – auch der bekannte 73jährige v. Freisleben aus Allenstein erlag einem Anfall. Das Haus, in dem wir diese Nacht verbringen sollten, war klein und bot uns keine Liegemöglichkeit. Aus mir selbst unbekannten Gründen öffnete ich eine Tür zum Hof. Dafür bezog ich von 2 russischen Posten fürchterliche Hiebe mit Bajonett und schwerer Paucke. Vom Schmerz betäubt, kauerte ich in einem Kellerwinkel. So hörte ich nur mit halben Sinnen das leise und lautere Wimmern und Weinen der zu jugendlichen deutschen Mädchen, die von unseren Posten – diesen russischen Bestien – vergewaltigt wurden.
Camp Maxey/Texas Der deutsche Kriegsgefangene Walter D. *1921
Es ist so schwer zu schreiben. – Die Russen stehen dreißig Meilen vor Berlin. Vor Küstrin toben schwere Kämpfe. Im Westen stehen die Alliierten vor einer großen Offensive. – Wie wird das alles enden?
Geismar Grete Paquin
Gustav ist in Rußland gefallen. Was für ein langer und schwerer Weg für ihn von seinem Gartengruß »Unter Blütenbäumen hat im Frühlingssegen hier zum Träumen ein Soldat gelegen« bis zum Wintertod im Osten. Harald sitzt viel bei mir,
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