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Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)

Titel: Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Entwürdigung aufrechnen. Aus Respekt vor den Bomben-Opfern wird kein Beifall gespendet; ein Satz, der vermutlich Beifall gefunden hätte, steht wie ein Leitmotiv über der Rede: »Leid kann man nicht saldieren.«
    Gäste aus zwölf Partnerstädten
    Einträchtig sitzen sie nebeneinander, die Feinde von einst, die längst zu Partnern geworden sind. Der Herzog von Kent vertritt das britische Königshaus (dieDresdner haben es der Queen bei ihrem Besuch vor drei Jahren übel genommen, daß sie die Frauenkirche nur aus schamvoller Entfernung passierte), Botschafter Redman die Vereinigten Staaten.
    Delegationen von zwölf Partnerstädten Dresdens sind gekommen, die allesamt unter Hitlers Angriffskrieg zu leiden hatten. Darunter sind St. Petersburg, Rotterdam, Coventry und Columbus (Ohio). 800 Flieger aus dem US-Städtchen sind nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt.
    Mit Coventry ist man schon seit 1959 offiziell verbunden. »Aus der Verwüstung unserer beiden Städte«, ruft Oberbürgermeister Nick Nolan aus, »ging ein Lichtstrahl der Toleranz aus.« Der unpathetisch wirkende Ire bemüht starke Metaphern: »Das Flammenmeer von Coventry und Dresden enzündete einen Funken der Hoffnung.«
    Der Bundespräsident scheut sich in diesem Augenblick nicht, die Opfer der Dresdner zu relativieren: Die Stadt sei nicht das »flammendste Beispiel«, wenn es um die Scheußlichkeiten des modernen Krieges gehe.
    Und er kommt auch jenen entgegen, die an dieser Stelle ein Wort zu den aktuellen Greueln hören wollten, ohne Sarajevo und Grosny, die neuen Synonyme für Haß und Krieg, beim Namen zu nennen.

Charles Burney
    In der Frauenkirche 1772
    Sonntags, den 20. September. Heute früh ging ich in die lutherische Frauenkirche, welche an einem großen Marktplatze liegt. Es ist ein sehr edles und feines Gebäude von Quadersteinen und hat eine hohe Kuppel in der Mitten; auswendig ist es ein Viereck, aber inwendig hat es die Gestalt eines Amphitheaters. Vor dem Altartische ist eine Erhöhung, über welcher man eine prächtige Orgel gebauet hat. Dies ist das einzige mir bekannte Exempel einer an der Ostseite der Kirche gelegenen Orgel. Alle, die ich gesehen habe, lagen am Ende des Chors westlich oder auf einer Seite. Das Singen unter Begleitung eines so schönen Instruments tut hier ungemeine Wirkung. Die ganze Gemeinde, an dreitausend Personen stark, singt im Einklange meist so langsame Melodien, wie die, welche in unseren Pfarrkirchen üblich sind; allein da die Leute hier zu Lande musikalischer sind als bei uns und von Jugend auf gewöhnt werden, den größten Teil des Kirchengesanges selbst zu singen, so hielten sie besser Ton und machten einen der größten Chöre, die ich je gehört habe.
    Das Gebäude ist sehr hoch und geräumig, zwischen den Pfeilern sind vier Emporkirchen von schöner Form über einander; die Sitze an der Erde gehen im Kreise herum, alle haben das Gesicht nach dem Altare zu. Überhaupt war dies eine der andächtigsten, ehrwürdigsten Gemeinden, die ich gesehen habe.

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Freitag, 16. Februar 1945
    Dr. Theodor Morell 1886–1948
    Kein Eintrag Berlin/Reichskanzlei
     
    Der Pressereferent Wilfred von Oven Berlin/Propagandaministerium
    Der Minister ist gestern zur Oderfront gefahren. Wir brauchen heute von Berlin bis zur Front keine tage- oder wochenlangen Reisen mehr zu machen. In zwei knappen Autostunden ist man in Frankfurt an der Oder. Es ist nicht viel Erfreuliches, was der Minister zu sehen bekommen hat.
     
    Dr. Rudolf Semler *1913 Berlin/Propagandaministerium
    Wir haben jetzt Berichte über die Katastrophe von Dresden zusammengetragen. Zwei Luftangriffe hintereinander verursachten 100 000 Tote. Die Stadt war vollgestopft mit Flüchtlingen aus dem Osten.
    Die unendliche Flut von schlechten Nachrichten in den letzten Monaten hat selbst Goebbels mürbe und lustlos gemacht. Seine alte Energie beginnt nachzulassen. Sein Gesicht ist eingefallen. Sein Haar ist an den Schläfen ergraut. Seine Frau macht sich Sorgen um seine Gesundheit. Der Kunst von Professor Morell, dem Leibarzt des Führers, der dieselben Symptome bei Hitler festgestellt hat, gibt es Rätsel auf. Frau Goebbels erzählte mir das heute Abend in großer Sorge.
    Ich sah Goebbels das erste Mal die Kontrolle über sich selbst verlieren, als er die schlimmen Berichte über die Katastrophe in Dresden erhielt. Die Tränen traten ihm in die Augen vor Trauer, Wut und Erschütterung. Zwanzig Minuten später sah ich ihn wieder. Er weinte immer noch

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