Der rote Hahn: Dresden im Februar 1945 (German Edition)
zu schärfen, zu subterranen Studien mit. Wir gruben ein Maulwurfs- und ein Waldameisennest aus, besuchten auch einen Kaninchenbau. Das Ameisennest war im toten Kern einer Fichte angelegt; seine Kammern, Gänge und Galerien folgten der Maserung und hatten so, unter Aussparung papierdünner Wände, den Holzblock wabenförmig durchsetzt. Das ausgeblichene Gebilde war von zarter Stabilität, so daß die Hand, wenn sie ein Stück davon umfaßte, sich spannen mußte, ehe es in trockene Scherben brach. Ich gedachte bei diesem Anblick der großen Erzählung über meine Abenteuer bei den Ameisen, durch die ich als Fünfzehnjähriger meine Geschwister bis tief in die Nächte in Atem hielt. Wenn diese Unbedenklichkeit im Fabulieren mir jemals wiederkehrte, könnte abfließen, was sich wie in einem Krater gespeichert hat. Weiter im Alten Testament. Deboras Triumphlied,
Richter 5: die furchtbare Festfreude über rauchendem Blut. Vers 28 bis 30 ironischer Genuß an der Pein der Mutter Siseras, die den Sohn qualvoll erwartet, unwissend noch, daß er nicht wiederkehren wird, weil ihm ein Nagel durch den Kopf getrieben ist. Als unerhörter Gewaltmensch tritt in diesem Buch auch Abimelech auf.
Gebirge gelten im allgemeinen als Rückzugsgebiete, als Horte der Freiheit, in denen das weichende Volkstum sich erhält. Hier findet sich das Gegenteil: Israel dringt in den Gebirgen vor und kann auf den Ebenen nicht Fuß fassen, wo Völkerschaften mit »eisernen Wagen« ansässig sind. Vielleicht ist die Regel so, daß die Gebirge der schwächeren, aber entschiedeneren Kraft günstig sind.
KZ Dachau Nico Rost
Rheinhardt wurde heute nachmittag – wie nicht anders zu erwarten war – mit Flecktyphus eingeliefert. Scheint schon seit ein paar Tagen Fieber zu haben. War bei ihm. Bin sehr besorgt, ob er es schaffen wird... Er ist bereits sehr krank und außerdem weit über Fünfzig. Drost befürchtet ebenfalls das Schlimmste.
KZ Theresienstadt Alisah Shek *1927
Am Ravelin 15 wird die Mauer abgerissen, gegraben, neue Mauern aufgerichtet. Eine Menschenmasse wimmelt über den aufgerissenen Boden, den verwüsteten Jugendgarten, stapft im bodenlosen Dreck herum. Die Sache ist unheimlich: wie denn nicht, alles, was unbekannt ist und mit der Zukunft verflochten, ist unheimlich. Und wenn es auch nur ein »Bassin für Enten« wird, das Wesentliche daran ist jener Fluch, womit alles hier vergiftet ist, das, was in der Luft ist und die Dinge hier bedeckt und unverständlich erscheinen läßt.
KZ Theresienstadt Martha Glass *1 878
Heute ist wieder ein aufregender Tag. Es ging ein Transport angeblich in die Schweiz als Austausch gegen Kriegsgefangene. Ich hatte auch eine Aufforderung, mußte Nachts um 1 Uhr in die Sokolowna, konnte dort die Erklärung abgeben, ob ich mitgehen wolle oder nicht. Ich wollte freiwillig mit und stand mit Tausenden am Sonntag früh von 7 Uhr bis 1 1 Uhr vor der Kommandatur. Dann packte ich den ganzen Nachmittag nur das allernotwendigste. Und schließlich bin ich gar nicht mitgekommen und weiß nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein soll. Jedenfalls lasse ich meinen Koffer gepackt und warte ab, was mit mir geschieht und wohin man mich verfrachtet. Wir armen Juden finden keine Ruhe im Leben. Jeder Tag bringt neue Aufregungen und neue Schrecken.
KZ Sachsenhausen Odd Nansen
Gestern wurde im Schonungsblock Nr. 2 »ausgesucht«, wo Skipper Stubenältester ist. Er wußte zu erzählen, daß die Opfer die Wolldecken und was sie sonst noch besaßen mitkriegten. Ein Omnibus kam auf den Appellplatz und holte sie. Das Einsteigen ging dort vor sich. Mit Paketen auf dem Rücken und Paketen auf dem Bauch und einer Decke über den Schultern wanderten sie froh zum Appellplatz, wo sie Mann für Mann aufgerufen wurden und ihr Name auf derListe ein Kreuz erhielt. Diese Kreuze wurden ihre Grabkreuze. Aber sie wußten es nicht. Sie fuhren aus dem Lager hinaus, geradenwegs durch die beiden Tore. Der Omnibus hielt auf der anderen Seite der Anlage. Dort ist eine neue kleine Baracke entstanden. Sie wurden hineingeführt und mußten dort das Hemd ausziehen, weil sie geimpft werden sollten. In der Baracke sah es sauber und ordentlich aus. Weiße Decken lagen auf den Tischen, und zwei weißgekleidete »Ärzte« erwarteten sie. (Zwei Gefangene, die nie Ärzte gewesen waren, und die die Büttelarbeit übernommen haben!) Auf einem Tisch lagen mehrere Spritzen bereit. Der eine »Arzt« gab dem Gefangenen die Spritze, während der
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