Der Rote Mond Von Kaikoura
lediglich über einen Bordstein getreten. »Komm mein Kind; wenn du deine Briefe abschicken möchtest, solltest du dich beeilen.«
»Weißt du denn, wo es hier ein Postamt gibt?«, fragte Lillian, während sie ihr Kästchen mit den Briefen fest an sich gedrückt hielt.
Georg schüttelte den Kopf. »Nein, als ich das letzte Mal in Christchurch war, stand hier bestenfalls eine Mission. Aber wenn du ein wenig herumfragst, wirst du es schon finden.«
Lillian zog verwundert die Augenbrauen hoch, als sich ihr Großvater unvermittelt auf einem scheinbar herrenlosen Fass niederließ.
»Was soll ich denn auf der Post?«, erklärte er und hob beide Hände. »Sicher ist es dort genauso voll wie an deutschen Schaltern. Da genehmige ich mir doch lieber ein kleines Pfeifchen.« Damit zog er seine Meerschaumpfeife und die Tabakdose aus seiner Jackentasche.
Lillian war ein wenig unwohl angesichts der fremden Stadt. Was, wenn sie sich verlief? Dann hast du einen Mund zum Fragen, antwortete ihr eine innere Stimme, die sich verdächtig nach ihrem Großvater anhörte, denn er hatte sie stets zur Selbstständigkeit angehalten. Und Lillian hatte eigentlich auch nichts anderes gewollt.
»Ich lasse meine Taschen hier und nehme nur ein wenig Geld mit«, verkündete sie und zog ihre Geldbörse. Ein paar Pfund hatten sie noch vor ihrer Abreise eintauschen können, alles Weitere würden sie erledigen, wenn sie in Kaikoura ankamen.
»Ich werde auf alles achtgeben«, entgegnete ihr Großvater und riss dann ein Streichholz an einem Stein an.
Ein wenig unsicher folgte Lillian der Straße, die sich an den Hafen anschloss und von zahlreichen Häusern gesäumt wurde. Die Leute hier unterschieden sich von denen, die sie in Köln getroffen hatte. Die Frauen waren anders gekleidet, wesentlich eleganter und auch ein bisschen wagemutiger, was die Farben anging. In Köln herrschten zu dieser Jahreszeit eher gedeckte Töne vor. Die Männer wiederum fielen dadurch auf, dass einige sie ganz unverhohlen anlächelten oder ihr hinterherpfiffen – und das, obwohl sie, was ihr Kleid anging, keinesfalls mit den anderen Frauen gleichen Alters mithalten konnte. Waren diese Pfiffe vielleicht nicht bewundernd gemeint, sondern ganz einfach nur spöttisch?
Gespannt ließ sie ihren Blick über die Häuser schweifen, die so auch in England hätten stehen können, doch vergeblich hielt sie nach Vertretern der Eingeborenen Ausschau, von denen ihr Großvater ihr hin und wieder erzählt hatte.
Die Post befand sich glücklicherweise nicht weit vom Hafen entfernt, sodass Lillian ohne fremde Hilfe darauf aufmerksam wurde. Allerdings reichte die Schlange der Wartenden bis hinaus auf die Straße. Für einen Moment wollte Lillian schon wieder kehrtmachen, doch dann besann sie sich. Du hast Wochen auf dem Schiff darauf gewartet, Adele endlich die Briefe zu schicken. Jetzt solltest du die Gelegenheit nutzen. Wer weiß, ob es in Kaikoura so etwas wie eine Poststelle gibt?, dachte sie sich.
Um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben, betrachtete Lillian die Geschäfte, die sich neben dem Postamt drängten. Im Schaufenster eines Damenausstatters blieb ihr Blick an einem lindgrünen Seidenkleid hängen. Was für ein wunderbares Kleid, dachte sie mit leichter Wehmut. Hätte der Laden in Köln gestanden und wäre sie noch dort gewesen, hätte sie Adele gewiss zu einem Ausflug in die Stadt überreden können, um sich diesen Laden näher anzuschauen. Jetzt reichte das Geld, das sie noch besaßen, bestenfalls für einfachen Stoff, aus dem sie Kleider nähen konnte – wenn es denn nötig war. Solange sich schadhafte Stellen ausbessern ließen, würde sie nicht die Gelegenheit haben, sich Stoff oder gar ein neues Kleidungsstück zuzulegen.
Als sie seufzend den Blick von dem Damenausstatter abwandte, bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde. Der Mann war bestenfalls Ende zwanzig und trug einen braunen Anzug, schwarze Stiefel und einen breitkrempigen Hut. Sein brauner Schnurrbart war sauber gestutzt, seine Augen leuchteten so hellblau wie der Sommerhimmel. Ein wenig erinnerte er Lillian an einen Cowboy aus einem Roman, den sie irgendwann gelesen hatte. Nur waren sie hier nicht in Amerika. Gehörte dieser Mann zu den Schafzüchtern, von denen sie gehört hatte?
Auf der Seaflower waren auch einige Neuseeländer gewesen, die sich über Schafzucht und Hütehunde unterhalten hatten. Obwohl Lillian nicht viel über das Landleben wusste, hatte sie das Gespräch zunächst recht interessant
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