Der rote Planet
komplizierte Zyanderivate, die
schon viele
Eigenschaften des Lebens besaßen, ohne echte lebende Materie
zu sein.
Es wurden die Umstände dargestellt, unter denen diese
chemischen
Verbindungen entstehen konnten. Es wurde erklärt, warum solche
Stoffe
erhalten blieben und sich unter beständigeren, jedoch weniger
flexiblen
Verbindungen anhäuften. Schritt für Schritt
würde die Weiterentwicklung
und Differenzierung dieser chemischen Keime jeglichen Lebens verfolgt,
bis hin zur Bildung echter lebender Zellen, mit denen das Reich der
Einzeller begann.
Zum Veranschaulichen wählte man das Bild eines
Stammbaums mit
verschiedenen Abzweigungen: von den Einzellern zu höheren
Pflanzen
einerseits, zum Menschen andererseits. Beim Vergleich mit der irdischen
Entwicklungslinie zeigte sich, dass auf dem Wege von der Urzelle zum
Menschen die ersten Kettenglieder fast gleichartig waren, auch der
Unterschied auf den letzten Stufen war unwesentlich, dagegen gab es in
der Mitte bedeutend mehr Abweichungen. Das kam mir
äußerst seltsam vor.
»Soviel ich weiß, ist dieses Problem noch
nicht erforscht worden«,
erklärte mir Netti. »Schließlich wussten wir
vor zwanzig Jahren noch
nicht, wie die höheren Lebewesen auf der Erde aussehen, und
wir waren
selbst sehr erstaunt, als wir solche Ähnlichkeiten mit uns
vorfanden.
Offenbar ist die Zahl möglicher höherer Typen nicht
allzu groß, und auf
Planeten, die einander so ähneln wie die unseren, konnte die
Natur bei
gleichartigen Bedingungen dieses Maximum des Lebens nur auf die eine
Weise hervorbringen.«
Menni ergänzte: »Der höchste Typus,
der einen Planeten beherrscht,
drückt am vollständigsten alle Bedingungen seiner
Welt aus, während die
Zwischenstadien, die nur einen Teil ihrer Umwelt erfassen, diese
Bedingungen partiell und einseitig ausdrücken. Deshalb
müssen die
höheren Formen einander bei gleichen Bedingungen
ähneln, während die
Zwischenstufen schon wegen ihrer Einseitigkeit mehr Raum für
Unterschiede haben.«
Während meines Studiums war mir aus einem
völlig anderen Grunde der
Gedanke gekommen, dass die Anzahl möglicher höherer
Typen begrenzt sei:
Die Augen der Kraken, der höchsten Organismen eines ganzen
Entwicklungszweiges, besitzen eine ungewöhnliche
Ähnlichkeit mit den
Augen der Wirbeltiere, obwohl Herkunft und Entwicklung der Sehorgane
ganz unterschiedlich sind, sogar die einander entsprechenden
Gewebeschichten sind in umgekehrter Reihenfolge angeordnet.
Wie auch immer, eines war unbezweifelbar: Auf dem Mars lebten
Menschen, die uns ähnelten, und ich musste mich weiterhin mit
ihrem
Leben und ihrer Geschichte befassen.
Auch die historischen Zeiten und vor allem die Anfangsphasen
menschlichen Lebens auf Erde und Mars glichen einander sehr. Die
gleichen Formen der Gentilgesellschaft, das gleiche abgesonderte Leben
einzelner Menschengruppen, die gleiche Entwicklung von Kontakten durch
Tauschhandel. Dann trennten sich die Wege, wenn auch nicht grundlegend.
Der Verlauf der Geschichte auf dem Mars war sanfter und
einfacher
als auf der Erde. Es gab natürlich Kriege zwischen
Stämmen und Völkern,
es gab auch Klassenkampf, aber die Kriege spielten eine geringe Rolle
und hörten bald völlig auf; der Klassenkampf gipfelte
viel seltener in
Zusammenstößen mit roher Gewalt. Das wurde in dem
Buch zwar nicht
direkt gesagt, war jedoch aus dem Zusammenhang ersichtlich.
Sklaverei kannten die Marsmenschen gar nicht, ihr Feudalismus
war
sehr wenig militaristisch, und ihr Kapitalismus befreite sich sehr
früh
aus nationalstaatlicher Zersplitterung und brachte nichts hervor, was
unseren modernen Armeen geglichen hätte.
Die Erklärung für diese Unterschiede musste
ich selber finden. Die
Marsmenschen, sogar Menni, hatten gerade erst begonnen, die Geschichte
der irdischen Menschheit zu studieren, und waren noch nicht soweit,
ihre und unsere Vergangenheit miteinander vergleichen zu
können.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Menni. Als ich
die Sprache zu
lernen begann, in der sich meine Reisegefährten unterhielten,
wollte
ich wissen, ob dieses Idiom auf dem Mars am weitesten verbreitet sei.
Menni erklärte, es sei die einzige Literatur- und
Umgangssprache aller
Marsbewohner.
»Einst wurden auch bei uns unterschiedliche Sprachen
gesprochen, und
die Menschen verschiedener Länder haben einander nicht
verstanden«,
hatte Menni hinzugefügt. »Aber schon vor langer
Weitere Kostenlose Bücher