Der rote Prophet
sich unter dem Fluch des Propheten weigern konnte, zu sprechen. Nicht, daß an Alvins Händen sonst Blut geklebt hätte. Doch er hatte das Gefühl, daß auf ihm dieselbe Bürde lastete wie auf allen Weißen, die das Massaker vom Tippy-Canoe geschaut hatten. Die Geschichte vom Tippy-Canoe war wahr; doch wäre es für Alvin ein Grund gewesen, sie an diesem Wissen nicht teilhaben zu lassen, wenn jeder Rote, der diese Geschichte hörte, von Haß erfüllt wurde und nach Rache verlangte, wenn er jeden weißen Mann umbringen wollte, der nicht zurück nach Europa segelte? War es nicht vielmehr ihr Naturrecht, die Wahrheit zu erfahren, damit sie von der Wahrheit selbst zum Guten oder zum Bösen geführt wurden, wie immer sie sich entscheiden mochten?
Nicht, daß Alvin über Naturrecht und ähnliche Dinge laut hätte sprechen können. Es gab nicht viel Gelegenheit für Gespräche. Gewiß, er war nahe bei Ta-Kumsaw, nie mehr als eine Armlänge von ihm entfernt. Doch Ta-Kumsaw sprach fast nie mit Alvin, und wenn er es doch tat, so sagte er nur Dinge wie »Fang einen Fisch« oder »Komm jetzt mit mir«. Ta-Kumsaw machte deutlich, daß er jetzt keine Freundschaft für Alvin mehr hegte, ja, daß er tatsächlich eigentlich überhaupt keinen Weißen bei sich haben wollte. Ta-Kumsaw lief schnell, wie es die Art der Roten war, und niemals blickte er sich um, um nachzusehen, ob Alvin Schritt hielt.
Einmal, nachdem sie ein Dorf verlassen hatten, das so aufgebracht worden war, daß Alvin um seinen eigenen Skalp fürchten mußte, hatte Alvin sich aufgelehnt und gefragt: »Warum laßt Ihr mich ihnen nichts davon erzählen, wie Ihr und ich und Geschichtentauscher alle gemeinsam den Achtgesichtigen Hügel bestiegen haben?« Doch Ta-Kumsaws einzige Antwort bestand darin, so schnell zu laufen, daß Alvin den ganzen Tag rennen mußte, um mit ihm Schritt zu halten.
Obwohl er jede Sekunde mit Ta-Kumsaw zusammen war, konnte Alvin sich nicht erinnern, sich jemals im Leben derart einsam gefühlt zu haben. Warum gehe ich dann nicht? fragte er sich. Warum gehe ich mit ihm? Es macht nicht gerade Spaß, und ich helfe ihm doch nur dabei, einen Krieg gegen mein eigenes Volk vom Zaun zu brechen, und es wird ständig kälter, als hätte die Sonne es aufgegeben, weiterhin zu scheinen, und als müßte die Welt nur noch aus grauen, kahlen Bäumen und blendendem Schnee bestehen.
Warum machte Alvin weiter? Teilweise lag es an Tenskwa-Tawas Prophezeiung, daß Ta-Kumsaw niemals sterben würde, solange Alvin bei ihm blieb. Alvin mochte Ta-Kumsaws Gesellschaft zwar nicht genießen, doch er wußte, daß er ein großer und guter Mann war, und wenn Alvin sein Leben irgendwie schützen konnte, dann mußte er es tun.
Doch es war noch mehr als das, mehr als die Verpflichtung, die er gegenüber dem Propheten empfand, für seinen Bruder Sorge zu tragen; es war auch mehr als das Bedürfnis, die schreckliche Bestrafung seiner Familie mitzutragen, indem er die Geschichte von Tippy-Canoe im ganzen Land des roten Mannes erzählte. Es war auch nicht die Zeit der Worte, sondern die des Gespürs für das, was richtig war. Die Welt verändert sich, und irgendwie bin ich Teil dessen, was sie vorantreibt. Ta-Kumsaw baut etwas auf, er bringt die roten Menschen zusammen, um etwas aus ihnen zu machen.
Es war das erste Mal, daß Alvin begriff, wie man mit Menschen etwas aufbauen konnte, daß die Roten, wenn Ta-Kumsaw sie durch seine Reden dazu brachte, mit einem Herz zu empfinden und mit einer Hand zu handeln, zu etwas Größerem wurden, als nur ein paar Stämmen; und etwas Derartiges aufzubauen, das war doch ein Akt wider den Entmacher, gegen den großen Urschöpfer, oder nicht?
Ta-Kumsaw erschafft etwas Neues, wo es vorher nichts gab, doch dieses Neue wird nicht ohne mich entstehen.
Es erfüllte ihn mit der Furcht, etwas zu erschaffen, das er nicht verstand; gleichzeitig aber auch der Drang, die Zukunft zu schauen. Also machte er weiter, drängte voran, verschliß seine Kräfte, sprach mit Roten, die am Anfang mißtrauisch und am Ende haßerfüllt waren, und starrte die meiste Zeit auf den Rücken Ta-Kumsaws, der vor ihm immer tiefer in den Wald hineinlief. Das Grün des Holzes wurde gold und rot, dann, mit den Herbstregen in den kahlen Bäumen schwarz, und schließlich grau und weiß und still. All seine Sorgen, all seine Entmutigung, all seine Verwirrtheit, all seine Trauer über die schrecklichen Dinge, die er kommen sah und die schrecklichen Dinge, die er in der Vergangenheit
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