Der rote Prophet
Tür einfach und trat ein.
Zum ersten Mal wußte Alvin nicht, was er tun sollte. Aus Gewohnheit wollte er Ta-Kumsaw ins Haus folgen, wie er ihm schon in unzählige Hütten des roten Mannes gefolgt war. Doch eine noch ältere Gewohnheit sagte ihm, daß man nicht einfach in ein solches Haus eintrat. Normalerweise ging man nach vorn an die richtige Eingangstür und klopfte höflich an, bis die Bewohner einen zum Eintreten aufforderten.
Also blieb Alvin an der Hintertür stehen, die Ta-Kumsaw sich natürlich nicht einmal zu schließen die Mühe machte, und sah zu, wie die ersten Fliegen des Frühlings hinein summten. Fast vermeinte er seine Mutter schreien hören, daß die Leute gefälligst die Türen schließen sollten, damit die Fliegen nicht hereinkamen und in der Nacht mit ihrem Gesumme alle in den Wahnsinn treiben konnten. Und da Alvin so dachte, tat er, was Ma ihnen stets zu tun aufgetragen hatte: Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.
Doch er wagte es nicht, tiefer in der Haus einzudringen als bis in die Diele, wo einige schwere Mäntel an Kleiderhaken hingen.
»Isaac«, sagte eine Frauenstimme.
Dann merkte Alvin, welches Geräusch er die ganze Zeit gehört hatte: ein rhythmisches Klopfen – wie ein Webstuhl. Das Geräusch hörte plötzlich auf. Ta-Kumsaw mußte sofort in das Zimmer hineingegangen sein, wo irgendeine Frau saß und webte. Nur daß er hier kein Fremder war, sie kannte ihn unter demselben Namen wie der Farmer draußen auf dem Feld. Isaac.
»Isaac«, sagte sie wieder, wer immer sie auch sein mochte.
»Becca«, erwiderte Ta-Kumsaw.
Ein schlichter Name, überhaupt kein Grund für Alvins Herz, plötzlich heftig zu pochen. Doch die Art, in der Ta-Kumsaw ihn aussprach – das war ein Ton, der Herzen zum Pochen bringen sollte. Ta-Kumsaw sprach ihn nicht etwa mit den merkwürdig verzerrten Vokalen des englischsprechenden Roten aus, sondern mit einem richtigen Akzent, als sei er aus England. Ja, er klang fast wie Reverend Thrower.
Nein, das war gar nicht Ta-Kumsaw, es war ein anderer Mann, ein weißer Mann im selben Raum mit der weißen Frau, das war alles. Und Alvin schritt lautlos im Gang entlang, um die Stimmen zu suchen, um den weißen Mann zu sehen, dessen Gegenwart alles erklären würde.
Statt dessen jedoch gelangte er an eine offene Tür und sah in einen Traum, in dem Ta-Kumsaw gerade eine weiße Frau an den Schultern hielt, in ihr Gesicht hinabblickte, während sie zu ihm aufsah. Niemand sagte ein Wort, die beiden sahen sich nur an. Kein weißer Mann war im Raum.
»Mein Volk sammelt sich am Hio«, sagte Ta-Kumsaw in seinem sonderbaren Englisch.
»Ich weiß«, erwiderte die Frau. »Es ist bereits im Gewebe.« Dann drehte sie sich zu Alvin um, der in der Tür stand. »Und du bist auch nicht allein gekommen.«
Noch nie hatte Alvin solche Augen gesehen. Er war noch zu jung, um Frauen nachzulaufen, wie es Wastenot und Wantnot getan hatten, als sie vierzehn geworden waren.
So empfand er auch nicht das Begehren eines Mannes für eine Frau, als er in ihre Augen schaute. Er blickte nur in sie hinein, wie er manchmal in ein Feuer blickte, und den Flammen beim Tanz zusah, ohne sie darum zu bitten, einen Sinn zu offenbaren; er beobachtete lediglich die schiere Willkür des Ganzen. So waren ihre Augen – als hätten sie schon hunderttausend Dinge geschehen sehen, als würden alle diese Dinge noch immer in diesen Augen umherwirbeln und als hätte sich niemals jemand die Mühe gemacht, diese Visionen hervorzuholen und vernünftige Geschichten daraus zu formen.
Alvin fürchtete, daß sie über irgendeine Zauberei verfügte, mit der sie Ta-Kumsaw in einen weißen Mann verwandelte.
»Mein Name ist Becca«, sagte die Frau.
»Sein Name ist Alvin«, sagte Ta-Kumsaw – oder genauer, Isaac sagte es, denn er hörte sich überhaupt nicht mehr wie Ta-Kumsaw an. »Er ist der Sohn eines Müllers aus dem Wobbish-Land.«
»Er ist der Faden, den ich im Gewebe gesehen habe und der nicht an Ort und Stelle war.« Sie lächelte Alvin an. »Komm her«, sagte sie. »Ich möchte den legendären Jungen Renegado sehen.«
»Wer ist das denn?« fragte Alvin. »Der junge Rene...«
»Renegado. Weiß du denn nicht, daß man sich in ganz Appalachee Geschichten erzählt? Von Ta-Kumsaw, der am einen Tag in Osh-Kontsy-Land erscheint und am anderen in einem Dorf am Ufer des Yazoo, um die Roten zu Massakern und zur Marter anzustacheln. Und stets wird er von einem weißen Jungen begleitet, der die Roten dazu drängt, noch
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