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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Sicherheit vertreiben.
    Ich werde ihm nicht mehr Schmerz zufügen, als es bedarf, um ihn zum Fortgehen zu bewegen.
    Der Kardinalvogel nickt. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Er flattert auf einen Ast, der in Ta-Kumsaws Kopfhöhe hängt. Er singt ein neues Lied. Von diesem Lied vernimmt Ta-Kumsaw zwar keine Worte, aber er hört, wie seine eigene Geschichte erzählt wird. Von nun an findet sich seine Geschichte im Gesang aller Kardinalvögel des Landes, denn was ein Kardinalvogel weiß, das erinnern alle anderen.
    Wer immer Ta-Kumsaw die ganze Zeit beobachtet haben mochte, hätte keinerlei Hinweise auf das wahrgenommen, was er tat und sah und hörte. Ta-Kumsaws Miene verriet nichts. Er stand dort, wo er gestanden hatte; ein Kardinalvogel ging vor ihm zu Boden, blieb eine Weile, sang und flog davon.
    Und doch veränderte dieser Augenblick Ta-Kumsaws Leben; er merkte es sofort. Bis zu diesem Tag war er ein junger Mann gewesen. Seine Kraft und seine Ruhe, auch sein Mut wurden bewundert, doch hatte er immer nur so gesprochen, wie jeder Shaw-Nee sprechen konnte, und nachdem er gesprochen hatte, war er verstummt und hatte die älteren Männer entscheiden lassen. Nun würde er für sich selbst entscheiden, wie ein echter Häuptling, wie ein Kriegshäuptling, kein Häuptling der Shaw-Nee, ja nicht einmal ein Häuptling der roten Männer dieses Nordlandes, sondern vielmehr der Häuptling aller Roten im Krieg gegen den weißen Mann. Schon viele Jahre hatte er gewußt, daß ein solcher Krieg kommen mußte; doch bis zu diesem Augenblick hatte er geglaubt, daß ein anderer Mann ihn anführen würde, ein Häuptling wie Cornstalk oder Black-fish, vielleicht sogar ein Cree-Ek oder Chok-Taw aus dem Süden. Doch der Kardinalvogel war zu ihm gekommen und hatte seine Geschichte in sein Lied aufgenommen. Nun würden überall dort im Land, wo man das Lied des Kardinalvogels vernahm, die weisesten der roten Männer seinen Namen kennen. Er war der Kriegshäuptling aller roten Männer, die das Land liebten; das Land hatte ihn auserwählt.
    Wie er so am Ufer des Hio stand, hatte er das Gefühl, das Antlitz des Landes zu sein. Das Feuer der Sonne, der Atem der Luft, die Kraft der Erde, der Lauf des Wassers, alle griffen in ihn ein und blickten durch seine Augen auf die Welt hinaus. Ich bin das Land; ich bin die Hände und die Füße und der Mund und die Stimme des Landes, wie es sich darum müht, sich des weißen Mannes zu entledigen.
    Das waren seine Gedanken.
    Er blieb stehen, bis es gänzlich dunkel geworden war. Die anderen roten Männer waren in ihre Heime zurückgekehrt, um zu schlafen – oder um dort betrunken und so gut wie tot bis zum Morgen liegenzubleiben. Ta-Kumsaw erwachte aus seiner Trance und hörte Gelächter, das vom Dorf der Roten herüberhallte, Gelächter und Gesang der weißen Soldaten im Fort.
    Ta-Kumsaw verließ den Platz, an dem er so viele Stunden gestanden hatte. Die Beine waren ihm steif geworden, doch er taumelte nicht; er zwang seine Beine dazu, sich geschmeidig zu bewegen, und sanft gab der Boden unter seinen Füßen nach. Der weiße Mann mußte grobe, schwere Stiefel tragen, um weit in dieses Land hineinzuschreiten, weil das Erdreich seine Füße zerriß und verletzte; der rote Mann konnte jahrelang dieselben Mokassins tragen, weil das Land sanft war und seinen Schritt willkommen hieß. Während er sich bewegte, spürte Ta-Kumsaw, wie sich Boden, Wind, Fluß und Blitz alle zusammen mit ihm bewegten.
    Im Inneren des Forts ertönte ein Schrei. Und dann weitere Schreie: »Dieb! Dieb!«
    »Haltet ihn!«
    »Er hat ein Faß gestohlen!«
    Flüche, Geheul. Und dann ein Gewehrschuß. Ta-Kumsaw wartete auf den Messerstich des Todes. Doch er kam nicht.
    Eine schattenhafte Männergestalt schob sich über die Brustwehr. Wer immer der Mann auch sein mochte, er balancierte jedenfalls ein Faß auf den Schultern. Einen Augenblick torkelte er oben auf den Pfählen des Palisadenzauns, dann sprang er in die Tiefe. Ta-Kumsaw wußte, daß es ein roter Mann war, weil er die dreifache Höhe eines ausgewachsenen Mannes im Sprung nehmen konnte.
    Vielleicht war es Absicht, vielleicht aber auch nicht, daß der fliehende Dieb sofort auf Ta-Kumsaw zulief und vor ihm stehenblieb. Ta-Kumsaw sah herunter. Im Sternenlicht erkannte er den Mann.
    »Lolla-Wossiky«, sagte er.
    »Habe ein Faß«, sagte Lolla-Wossiky.
    »Das sollte ich eigentlich zerschmettern«, meinte Ta-Kumsaw.
    Lolla-Wossiky legte den Kopf schräg wie der Kardinalvogel und

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