Der rote Prophet
der andere ein Lügner war. Hatte er Gouverneur Harrison nicht von Anfang an durchschaut? Ein solcher Mann konnte sein Innerstes nicht vor ihm verbergen.
Nur wenige Minuten später machten auch sie sich auf. Ein paar Dutzend Männer führten die Frauen und Kinder an einen anderen Ort, wo sie sich für eine kurze Zeit niederlassen würden. Nie blieben sie länger als drei Tage an einer Stelle – eine dauerhafte Siedlung wie Prophetstown war eine Einladung zu einem Massaker.
Ta-Kumsaw führte sie durch den Wald. Der weiße Junge lief dicht hinter ihm. Bewußt wählte Ta-Kumsaw ein mörderisches Tempo, doppelt so schnell wie zuvor, als sie den Jungen und seinen Bruder an den Mizogan gebracht hatten. Es waren noch zweihundert Meilen bis Fort Detroit, und Ta-Kumsaw war entschlossen, diese Strecke an einem einzigen Tag hinter sich zu legen. Kein weißer Mann vermochte dies – und auch kein Pferd eines Weißen. Alle fünf Minuten eine Meile, immer weiter, während der Wind seinen Haarknoten peitschte. Auch nur eine halbe Stunde in diesem Tempo zu laufen, hätte einen gewöhnlichen Mann normalerweise umgebracht, nur daß der rote Mann die Kraft des Landes anrief, um ihm zu helfen. Der Boden preßte sich gegen seine Füße, vermehrte seine Kraft. Die Sträucher teilten sich, um Platz zu machen. Ta-Kumsaw jagte so schnell über Bäche und Flüsse, daß seine Füße ihren Boden nicht berührten und gerade nur tief genug einsanken, um im Wasser selbst Halt zu finden. Sein Verlangen, nach Fort Detroit zu kommen, war so stark, daß das Land darauf reagierte, indem es ihn nährte und ihm Kraft gab. Und nicht Ta-Kumsaw allein, sondern jeder Mann hinter ihm; jeder Rote, der das Gefühl des Landes in seinem eigenen Inneren kannte, fand dieselbe Kraft wie sein Anführer, ging denselben Pfad entlang, Schritt um Schritt, wie eine große Seele, die einen langen, geraden Pfad durch den Wald entlangeilte.
Ich werde den weißen Jungen tragen müssen, dachte Ta-Kumsaw. Doch die Schritte hinter ihm – denn Weiße machten beim Laufen Lärm – verklangen nicht, sie paßten sich seinem eigenen Rhythmus an.
Das war natürlich unmöglich. Die Beine des Jungen waren kürzer, er mußte mehr Schritte machen, um dieselbe Strecke hinter sich zu legen. Und doch: Minute um Minute, Meile um Meile, Stunde um Stunde hielt der Junge mit ihm Schritt.
Hinter ihnen ging zur Linken die Sonne unter. Die Sterne kamen heraus, doch kein Mond, und die Nacht war dunkel unter den Bäumen. Das Land selbst führte sie in der Dunkelheit sicher weiter. Mehrmals bemerkte Ta-Kumsaw in der Nacht, daß der Junge kein Geräusch mehr machte. Jedesmal rief er dem Mann, der hinter dem weißen Jungen Alvin lief, etwas auf Shaw-Nee zu, und jedesmal antwortete der Mann: »Er läuft.«
Der Mond kam heraus, warf Flecken matten Lichtes auf den Waldboden. Sie liefen durch Schauer, durch schwere Regenfälle, wieder durch Schauer, dann wurde das Land trocken. Nie verlangsamten sie ihr Tempo. Im Osten wurde der Himmel erst grau, dann rosa, dann blau, bis die Sonne wieder emporstieg. Sie stand bereits drei Hände breit über dem Horizont, als sie den Rauch von Kochfeuern erblickten, dann die schlaffe Lilienfahne und endlich das Kreuz der Kathedrale. Erst dann wurden sie langsamer, um sich auf einem Grasstück auszuruhen, das so dicht bei der Stadt lag, daß sie die Orgel in der Kathedrale spielen hören konnten.
Ta-Kumsaw blieb stehen, und hinter ihm hielt auch der Junge an. Wie war es Alvin, einem weißen Jungen, gelungen, wie ein roter Mann durch die Nacht zu wandern? Ta-Kumsaw kniete vor dem Jungen nieder. Obwohl Alvins Augen geöffnet waren, schien er nichts zu sehen. »Alvin«, sagte Ta-Kumsaw auf Englisch. Der Junge antwortete nicht. »Alvin, schläfst du?«
Einige der Krieger scharten sich um die beiden. Sie waren ebenso verwundert wie Ta-Kumsaw. Hatte Ta-Kumsaw den Jungen durch seine eigene Kraft zum Durchhalten befähigt? Oder hatte das Land unglaublicherweise einem weißen Kind von seiner Kraft gegeben?
»Ist er weiß wie seine Haut, oder ist er im Herzen rot?« fragte einer. Er sprach es auf Shaw-Nee, doch nicht mit der gewöhnlichen Betonung, sonder in der langsamen und heiligen Sprache der Schamanen.
Zu Ta-Kumsaws Überraschung antwortete Alvin dem Mann und sah ihn dabei an. »Weiß«, murmelte er. Er sprach Englisch.
»Spricht er unsere Sprache?« fragte der Mann.
Alvin schien die Frage zu verwirren. »Ta-Kumsaw«, sagte er. Er blickte zur Sonne hinauf. »Es ist
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