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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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Schneidern und Antiquitätengeschäften.
    Stundenlang war er vor den Schaufenstern auf und ab gewandert und hatte sich doch nicht dazu durchringen können, die beengten Läden zu betreten, wo sich sofort die Verkäufer auf ihn gestürzt hätten.
    Dreimal hatte er die Arkade verlassen und war über den Newski-Prospekt zum riesigen Markt namens Gostiny Dwor geflohen. Der Boden dort war mit Sägespänen, welken Kohlblättern und weggeworfenen, auf grauen Notizzetteln gekritzelten Rechnungen bedeckt. Lastwagen hielten in den breiten, kopfsteingepflasterten Anlieferzonen, und Lastenträger in blauen Kitteln mit Silberknöpfen, die Hände zum Schutz vor den splittrigen Holzkisten mit Stofffetzen umwickelt, luden Obst und Gemüse ab.
    Im Inneren des riesigen, kalten, hallenden Gostiny Dwor, umgeben vom Marktgeschrei der Händler und den von Sägespänen gedämpften Schritten der Passanten, setzte sich Pekkala auf ein Fass in einem Café, das auch von den Lastenträgern besucht wurde, nippte an einem Glas Tee und spürte, wie er sich nach der elegant-protzigen Atmosphäre in der Passasch allmählich wieder entspannte.
    Der letzte Zug nach Zarskoje Selo würde in einer halben Stunde abgehen. Da er keinesfalls mit leeren Händen heimkehren konnte, raffte er sich zu einem weiteren Besuch in der Passasch auf. Jetzt oder nie, dachte er sich.
    Eine Minute darauf, auf dem Weg nach draußen, fiel ihm ein Mann auf, der an einer der Säulen am Ausgang stand. Dieser Mann beobachtete ihn verstohlen. Pekkala spürte immer, wenn er beschattet wurde, selbst wenn er die betreffende Person nicht sehen konnte. Er spürte es, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen.
    Kurz sah Pekkala zu dem Mann, als er an ihm vorbeiging – er trug einen knielangen Mantel aus taubengrauer Wolle, einen leicht altmodischen Homburg mit ovaler Krempe, so dass die Augen beschattet waren und Pekkala sie nicht sehen konnte. Außerdem hatte er einen beeindruckenden Schnauzer und einen kleinen, nervösen Mund.
    Aber Pekkala war zu sehr mit Iljas Geburtstagsgeschenk beschäftigt, um weiter auf ihn zu achten.
    Draußen schimmerte der Abendhimmel, der sich zu dieser Jahreszeit erst gegen Mitternacht verdunkeln würde.
    Er hatte fast den Ausgang erreicht, als er etwas im Rücken spürte.
    Er fuhr herum.
    Der Mann mit dem Homburg stand hinter ihm. In der Hand hielt er eine Waffe. Eine Automatikpistole minderer Qualität, wie sie in Bulgarien produziert wurde und die, da sie billig und leicht auf dem Schwarzmarkt zu bekommen war, oft an Tatorten auftauchte.
    »Sind Sie der, für den ich Sie halte?«, fragte der Mann.
    Bevor Pekkala etwas darauf erwidern konnte, hörte er einen lauten klatschenden Knall.
    Funken stoben aus dem Lauf der Pistole, in der Luft hing Rauch.
    Pekkala begriff, dass auf ihn geschossen worden war, aber er spürte weder den Aufprall des Geschosses noch die brennenden, stechenden Schmerzen, die sich schnell zu einer den gesamten Körper umfassenden Taubheit ausweiten würden, wie er wusste. Erstaunlicherweise spürte er überhaupt nichts.
    Der andere starrte ihn nur an.
    Erst jetzt bemerkte Pekkala, dass alles um ihn zum Stillstand gekommen war. Überall waren Menschen, Lastenträger, Kunden mit Einkaufsnetzen, Verkäufer hinter ihren zu Barrikaden geschichteten Waren, und alle starrten ihn an.
    »Warum?«, fragte er den Mann.
    Keine Antwort. Aber Entsetzen machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit. Er legte sich die Pistole an die Stirn und drückte ab.
    Ein Knall, der Pekkalas Ohren klingeln ließ – und der Mann sackte auf dem Boden zusammen.
    Und nachdem ihn eine Sekunde zuvor vollkommene Stille umgeben hatte, brach nun ohrenbetäubender Lärm über ihn herein. Er hörte die heiseren Schreie der in Panik geratenen Männer, die sinnlose Befehle riefen. Eine Frau packte ihn an der Schulter. »Es ist Pekkala!«, kreischte sie. »Sie haben das Smaragdauge umgebracht!«
    Vorsichtig begann Pekkala seinen Mantel aufzuknöpfen. Das Lösen der Knöpfe fühlte sich plötzlich völlig fremd an, als hätte er so etwas noch nie getan. Er öffnete den Mantel, dann die Weste und schließlich das Hemd. Er machte sich auf den Anblick der Wunde gefasst, die schrecklich fahl-weiße, aufgerissene Haut, das pulsierende Blut, das aus einer Arterie strömte. Aber die Haut war glatt und unverletzt. Er wollte seinen Augen nicht trauen, fuhr sich mit der Hand über die Brust und war überzeugt, dass hier die Wunde sein musste.
    »Er ist nicht verletzt!«, schrie ein

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