Der Rote Sarg
Wachposten war nichts zu sehen.
Pekkala und Kirow bibberten am ganzen Leib. Sie mussten sich unbedingt aufwärmen, bevor sie in die Stadt zurückfuhren.
Sie versuchten, in andere Gebäude zu gelangen, aber alle waren abgeschlossen.
In ihrer Verzweiflung schichteten sie schließlich mehrere zerbrochene Holzpaletten aufeinander, die sie hinter dem Eisenhaus gefunden hatten, und setzten sie mit Benzin aus dem Reservekanister ihres Wagens in Brand.
Wie Schlafwandler streckten sie die Hände dem lodernden Feuer entgegen, ließen sich auf dem Boden nieder und zogen die Stiefel aus, aus denen braunes Wasser tröpfelte. Dann hielten sie ihre aufgeweichten Füße zum Feuer hin, bis ihre Socken dampften.
»Was ich nicht verstehe«, sagte Kirow, als seine Zähne endlich nicht mehr klapperten, »ist, warum Major Lysenkowa überhaupt hier ist. Der NKWD hat Dutzende Ermittler. Warum schicken sie jemanden her, der üblicherweise nur intern ermittelt?«
»Es kann dafür nur einen Grund geben«, antwortete Pekkala. »Der NKWD muss davon ausgehen, dass einer aus den eigenen Reihen für den Mord verantwortlich ist.«
»Das erklärt aber nicht, warum es Major Lysenkowa so eilig hat, die Ermittlungen abzuschließen.«
Pekkala ließ die Patronenhülse auf der offenen Handfläche hin- und herrollen. »Das hier sollte ihr etwas den Wind aus den Segeln nehmen.«
»Mir ist schleierhaft, wie Sie das einfach so tun können, Inspektor.«
»Was kann ich?«
»Na, wie Sie in aller Seelenruhe an den Toten herumhantieren«, erwiderte Kirow. »Vor allem, wenn sie so … so entstellt sind.«
»Ich hab mich daran gewöhnt«, sagte Pekkala und musste an seinen Vater denken, der gerufen worden war, um die in den Wäldern gefundenen Toten abzuholen. Manchmal waren es Jäger gewesen, die im Winter vermisst wurden. Sie waren durch das dünne Eis auf den Seen eingebrochen und erst im Frühjahr wieder aufgetaucht, alabasterweiße Leichen, die sich im Treibholz oder in Zweigen verheddert hatten. Manchmal waren es Alte, die sich im Wald verirrt hatten und an Entkräftigung gestorben waren. Ihre sterblichen Überreste waren – vom Skelett abgesehen – kaum noch zu erkennen. Pekkala und sein Vater hatten immer einen Sarg mitgenommen, eine grob gezimmerte, nach Harz riechende Fichtenkiste, in die sie die in dicke Leinwandplanen gewickelten Überreste legten.
Sie hatten häufig solche Gänge unternommen, und nie hatte er Alpträume davon bekommen. Nur eine dieser Begebenheiten war ihm klar und deutlich im Gedächtnis geblieben.
Es war der Tag, an dem der tote Jude in die Stadt geritten kam.
Sein Pferd trottete mitten in einem Schneesturm über die Hauptstraße von Lappeenranta, darauf saß der Jude mit seinem schwarzen Mantel und breitkrempigen Hut; sein Bart war nur noch ein dichtes Gewirr aus Eiszapfen. Er schien im Sattel erfroren zu sein. Das Pferd blieb vor der Werkstatt des Schmieds stehen, als wüsste es, wohin es wollte, obwohl der Schmied schwor, das Tier niemals zuvor gesehen zu haben.
Keiner wusste, woher der Jude stammte. Nachrichten wurden zu den nächstgelegenen Dörfern Joutseno, Lemi und Taipalsaari geschickt, aber keiner kannte ihn. Die Satteltaschen lieferten ebenfalls keinerlei Hinweise, sie enthielten lediglich einige Kleidungsstücke, ein paar Lebensmittel und ein in seiner Sprache verfasstes Buch, das in Lappeenranta keiner entziffern konnte. Wahrscheinlich stammte er aus Russland; die nicht markierte Grenze lag nur wenige Kilometer entfernt. Vermutlich hatte er sich in den Wäldern verirrt und war gestorben, bevor er einen Unterschlupf finden konnte.
Der Jude musste bereits seit geraumer Zeit tot gewesen sein – seit fünf oder sechs Tagen, mutmaßte Pekkalas Vater. Sie mussten den Sattel lösen, um ihn vom Pferd zu bekommen. In der Hand hielt er immer noch die Zügel. Der damals zwölfjährige Pekkala versuchte, das Lederband aus den steifen Fingern zu winden, allerdings ohne Erfolg, so dass sein Vater mit einem Messer das Leder durchschneiden musste. Da der ganze Körper steif gefroren war, passte der Jude nicht in den Sarg. So konnten sie ihn auf dem Rückweg zu Pekkalas Haus nur notdürftig bedecken.
Am Abend luden sie ihn im Arbeitsraum zum Auftauen ab, damit sich Pekkalas Vater am nächsten Morgen an das Herrichten des Leichnams machen konnte.
»Ich möchte dich um etwas bitten«, sagte sein Vater zu Pekkala. »Du musst ihn hinausbegleiten.«
»Hinausbegleiten?«, fragte Pekkala. »Aber er ist doch schon
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