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Der Rote Sarg

Der Rote Sarg

Titel: Der Rote Sarg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Eastland
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tot.«
    Pekkalas Vater schüttelte den Kopf. »Nach seinem Glauben hält sich sein Geist so lange in der Nähe des Leichnams auf, bis dieser beerdigt wird. Der Geist hat Angst. Ihrem Brauch zufolge muss jemand beim Toten sitzen, bis sich der Geist endgültig vom Körper verabschiedet hat.«
    »Und wie lange dauert das?«, fragte Pekkala und starrte auf den Leichnam und die Beine, die so gebogen waren, als würde er immer noch auf einem Pferd sitzen. Wasser tropfte von der auftauenden Kleidung, so gleichmäßig und so laut wie das Ticken einer Uhr.
    »Nur bis zum Morgen«, sagte sein Vater.
    Der Arbeitsraum seines Vaters lag im Keller. Dort verbrachte Pekkala also die Nacht, saß auf einem Stuhl mit dem Rücken zur Wand. Eine Paraffinlampe brannte mit ruhiger Flamme auf dem Tisch, wo sein Vater die Werkzeuge ausgelegt hatte – Gummihandschuhe, Messer, Schläuche, Nadeln, gewachste Leinenfäden und eine Schachtel mit verschiedenen Rougetönen, um der Haut wieder Farbe zu verleihen.
    Pekkala hatte vergessen, seinen Vater zu fragen, ob er einschlafen dürfe; jetzt war es zu spät dafür, da seine Eltern und sein Bruder schon Stunden zuvor ins Bett gegangen waren. Um sich zu beschäftigen, blätterte er in dem Buch, das sie in den Satteltaschen des Juden gefunden hatten. Die Buchstaben sahen aus wie winzige Rauchfäden.
    Pekkala legte das Buch weg und trat zu dem Leichnam. Er betrachtete das abgehärmte Gesicht, die wächserne Haut, den rötlichen Bart und musste an den Geist des Juden denken, der nun angeblich im Raum anwesend war, ohne dass Pekkala wusste, wo er sich aufhielt. Er stellte sich vor, dass er sich neben der messingfarbenen Flamme der Lampe befand und wie eine Motte zum Licht hingezogen wurde. Aber vielleicht, dachte er, interessierten sich nur die Lebenden für solche Dinge. Dann ging er zurück zu seinem Stuhl und setzte sich wieder.
    Er wollte nicht einschlafen, aber plötzlich war es Morgen. Er hörte, wie die Kellertür geöffnet wurde und sein Vater die Treppe herunterkam. Pekkalas Vater fragte nicht, ob er geschlafen hatte.
    Der Leichnam des Juden war aufgetaut. Ein Bein hing vom Präparationstisch. Sein Vater hob es an und legte es sacht neben das andere. Dann löste er das abgeschnittene Stück des Lederzügels aus den Händen.
    Später an diesem Tag begruben sie ihn auf einer Lichtung am Berghang, wo man einen Blick über den See hatte. Sein Vater hatte die Stelle ausgesucht. Es gab keinen Pfad dorthin, so mussten sie den Sarg mit Seilen durch den Wald schleifen oder ihn vor sich herschieben, bis ihre Fingerspitzen von den Holzsplittern aufgerissen waren.
    »Die Grube sollte bessser tief sein«, sagte sein Vater und reichte Pekkala eine Schaufel. »Sonst graben ihn sich die Wölfe wieder aus.«
    Zusammen kratzten sie die Kiefernnadeln weg und gruben mit Hacken in den grauen Lehmboden. Als sie den Sarg endlich hinuntergelassen und das Grab wieder zugeschüttet hatten, legten sie ihre Schaufeln nieder, und da sie nur die Gebete für ihren Gott kannten, standen sie eine Weile schweigend vor dem Grab, bevor sie sich auf den Heimweg machten.
    »Was hast du mit seinem Buch gemacht?«, fragte Pekkala.
    »Sein Kopf ruht darauf«, erwiderte sein Vater.
    Seitdem hatte Pekkala so viele leblose Körper gesehen, dass sie vor seinem inneren Auge allesamt miteinander verschmolzen. Das Gesicht dieses Juden aber war ihm noch deutlich in Erinnerung, und die Rauchfadenschrift sprach zu ihm in seinen Träumen.
    »Mir ist schleierhaft, wie Sie das einfach so tun können«, wiederholte Kirow.
    Pekkala erwiderte nichts darauf. Er wusste es ebenfalls nicht.
    Das Holz knackte, Funken stoben in den blau-schwarzen Himmel auf, und die beiden Männer drängten sich gegen die Kälte dicht aneinander.

    Als sie sich dem Kreml näherten und Kirow den Emka durch das zinnenbewehrte Spasski-Tor mit dem hoch aufragenden gold-schwarzen Uhrenturm steuerte, knöpfte sich Pekkala für das bevorstehende Treffen mit Stalin den Mantel zu. Der Emka polterte über das Kopfsteinpflaster des Iwanowski-Platzes, bis sie an der gegenüberliegenden Seite eine Sackgasse erreichten.
    »Ich gehe später zu Fuß nach Hause«, sagte er zu Kirow. »Es kann eine Weile dauern.«
    Vor einer einfachen, nicht gekennzeichneten Tür schlug ein Wachsoldat vor Pekkala so scharf die Hacken zusammen, dass es von den hohen Ziegelmauern ringsum zurückhallte. Er entrichtete ihm den traditionellen Gruß »Ich wünsche Ihnen Gesundheit«, womit er zugleich zum

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